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Über die Ästhetik von öffentlichem Raum. Stadtplanung mit Kontext.

Warum eigentlich sind unsere alten Städte in Europa schöner als alles, was Planer und Architekten je in den vergangenen Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg an Neuem entwickelt haben? Ist das normal? Ein Gastbeitrag von Christoph Mäckler.

Sind Städte, wie der eine oder andere Kritiker im Brustton der Überzeugung öffentlich vertritt, heute unplanbar? Oder beruht der desolate Zustand der neuen Stadtviertel mit ihren traurig tristen Straßen, denen jede Anmutung und Aufenthaltsqualität fehlt, einfach nur auf einem fatalen Unwissen der Fachleute, Straßen und Plätze als städtische Aufenthaltsräume zu planen?

Offenbar haben wir uns daran gewöhnt, dass wir, wenn wir von Florenz als schöner Stadt sprechen, nicht die Neubauviertel der vergangenen 50 Jahre, sondern ausschließlich das Zentrum der Stadt mit der Piazza della Signoria meinen. Wer Barcelona als die schönste Stadt am Meer benennt, denkt an die alte Rasterstadt mit dem prächtigen Boulevard, den Ramblas und nicht an die Erweiterung der Stadt, die im Rahmen der Olympiade 1992 mit einem Etat von 5,5 Milliarden Euro angelegt wurde. Und wenn wir von Paris schwärmen, haben wir das Paris Haussmanns vor Augen und nicht das ab 1963 entstandene Viertel LaDefense hinter dem Arc de Triomphe oder gar die Banlieues, jene Neubauviertel außerhalb des Stadtzentrums, die zum Inbegriff sozialen Abstiegs mutierten. 

Die Fehler der Nachkriegsjahrzehnte glauben wir erkannt zu haben. Wenn wir heute aber durch die von Planern angepriesenen neuen Stadtviertel unserer Zeit hinter den Bahnhöfen von Stuttgart, Zürich oder Frankfurt gehen, die ihre Urbanität und Zukunftsfähigkeit glauben schon mit dem Namen „Europaviertel“ nachweisen zu können, fröstelt es uns angesichts der abstoßenden Kälte und Langeweile, die uns in den ungefassten Stadträumen entgegen schlägt. 

Vergleicht man diese Europaviertel mit alten Stadtzentren (egal aus welchem Jahrhundert sie stammen­ – sie müssen nur vormodern, also mehr als 100 Jahre alt sein), hat jedes einzelne Haus dort eine Qualität, an die die heutigen Neubauten nicht im Mindesten heranreichen. Warum entstehen heute Neubauviertel aus neben- und hintereinander gestellten Häusern, die keinerlei räumlichen Bezug zueinander haben und jeglichen gestalteten öffentlichen Straßen- oder Platzraum vermissen lassen? Ist es richtig, dass der alte Stadtraum mit seinen geordneten öffentlichen Plätzen und Stra-ßen prinzipiell eine höhere Lebensqualität hat, als alles, was wir in den vergangenen Jahrzehnten errichtet haben? Oder stimmt das vielleicht gar nicht und man ist einfach nur ewiggestrig, wenn man es wagt, das Nichtvorhandensein des öffentlichen Raumes und städtebaulicher Qualität in unseren Neubauvierteln anzumahnen?

Das Haus ist ein Baustein der Stadt.

„Die Außenwände des Wohnraumes sind die Innenwände des öffentlichen Stadtraumes“, formulierte der Architekt und Stadtplaner Georg Franck (TU Wien) auf der fünften „Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt“ des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst. Er definierte damit treffend, dass der Entwurf der Straßen- und Platzräume mit und durch die Fassaden der Wohn- und Geschäftshäuser geformt wird. Folgerichtig muss sich die Grundform des Einzelhauses der Grundform der Straße und des Platzes unterordnen und nicht einfach nur, wie heute üblich, der einfachen Rechteckform folgen.

Aber auch schon die Höhe eines Hauses, ins richtige Verhältnis zur Breite der Straße und ihren Gehsteigen gesetzt, bestimmt die Proportion und damit den Charakter des öffentlichen Raumes der Stadt. Und natürlich sind Grundrisse des Wohnhauses und die Ausrichtung ihrer Funktionen (Treppe, Küche, Bad, Schlafraum, Wohnraum) zur Straße bestimmend für die Anteilnahme des Hauses und damit seines Bewohners am städtischen Straßenleben. Der Grundriss eines Mietshauses, an dessen Straßenfassade aus vermeintlich funktionalen Gründen ausschließlich Treppenhäuser, Bäder und Küchen gelegt sind, weil man glaubt, alle Wohnräume zur Sonne ausrichten zu müssen, verschließt sich der Straße. Das Haus wendet der Straße förmlich den Rücken zu.


Jedes innerstädtische Bauwerk muss als Baustein der Stadt dauerhaft und schön sein.


Die Schönheit der Fassade im städtischen Straßenraum wird also erst einmal durch ‣ die Grundrissorganisation des Hauses bestimmt. Dabei formuliert sich der Begriff „Schönheit“ nur durch die Lebendigkeit, die sich mit Fensteröffnungen von Wohnräumen in den Straßenraum hinein entwickelt. Die Stadthäuser Amsterdams, deren Wohnräume am Abend den öffentlichen Raum wie eine Theaterkulisse beleben, sind vielleicht das beste Beispiel, um das Verhältnis der Funktion von Wohnhausgrundrissen und ihren Einfluss auf den Straßenraum zu erläutern.

Voraussetzung für die Formulierung einer räumlich gefassten Straße ist also die Orientierung der Hausfassaden, ihrer „Straßenfenster“ und Hauseingänge in den städtischen Raum. Aus dieser Orientierung, der Materialität, Farbigkeit und Proportion der Hausfassaden wird die Schönheit des Straßenraumes entwickelt. Architektonisch kam der Hausfassade (auch als Straßenfassade bezeichnet) zu allen Zeiten eine besondere Bedeutung zu, weil sie das Haus für seinen Besitzer in den öffentlichen Raum hinein repräsentierte. Dies hat sich erst mit der Moderne und der Idee des Hauses als solitärem Kunstwerk verändert.

Urbanität zum Ziel

Das Leitbild jeglicher städtebaulichen Planungen in Deutschland muss das eines nachhaltigen, dauerhaften und schönen Bauens sein. Für die ländlichen Bereiche bedeutet dies, durch Baumaßnahmen den Charakter der jeweiligen Kulturlandschaft zu stärken. Für die Stadt aber muss eine umfassende, dem jeweiligen Ort angemessene Urbanität das Ziel sein. Eine solche Urbanität ist in der Notwendigkeit begründet, aus ökologischen Gründen jegliche Bautätigkeit vor der Stadt zu minimieren. Jedes innerstädtische Bauwerk muss als Baustein der Stadt dauerhaft und schön sein, um auf diese Weise eine qualitätvolle und zukunftsfähige städtische Umwelt zu schaffen.

Städte in Deutschland müssen architektonisch wohl gestaltete öffentliche Räume aufweisen, aus kontextbezogenen Häusern mit ansprechenden Fassaden bestehen, von einer quartiersangemessenen Dichte und Funktionsmischung geprägt sein und durch Fußläufigkeit eine hohe Lebensqualität gewährleisten. Sie müssen für breite soziale Schichten unterschiedlicher Herkunft offen stehen, von einer engagierten Bürgerschaft gefördert werden, von einer vielfältigen und ortsbezogenen Wirtschaft getragen werden, sich durch ein reichhaltiges Kulturleben auszeichnen und in einer kontrastreichen Beziehung zur umgebenden Landschaft stehen.

10 Grundsätze zur Stadtbaukunst heute

1. Stadttheorie
Komplexität statt Reduktion

Stadtbaukunst muss alle Aspekte der Stadt umfassen und ihnen Gestalt geben. Städte lassen sich nicht auf einzelne Aspekte und deren Bewältigung durch einzelne Disziplinen reduzieren.

2. Stadtbild
Städtebau statt Fachplanung

Das Stadtbild entsteht aus der bewussten Anordnung und Gestaltung städtischer Bauwerke und bedarf eines auf dauerhafte Schönheit bedachten Städtebaus. Die Vernachlässigung des überkommenen Stadtbildes in der Stadtplanung, die durch die Trennung der unterschiedlichen Planungsbereiche verursacht wird, verhindert die Entwicklung umfassend qualitätsvoller Lebensorte.

3. Stadtarchitektur
Gebautes Ensemble statt individualistischer Eventarchitektur

Städtische Architektur muss Ensembles mit ausdrucksreichen Fassaden bilden und ein gegliedertes Ganzes von zusammenhängender Textur und Substanz schaffen. Ausschließlich individualistische Eventarchitektur löst den städtischen Zusammenhang und die Verständlichkeit des öffentlichen Raums auf.

4. Stadtgeschichte
Langfristige Stadtkultur statt kurzfristiger Funktionserfüllung

Städtebau ist eine kulturelle Tätigkeit, die auf historischer Erfahrung und Bildung aufbaut. Vorgeblich wissenschaftliche Modelle und spontan verfasste Leitbilder wie beispielsweise die „verkehrsgerechte Stadt” verkennen den langfristigen und umfassenden Charakter der Stadt.

5. Stadtidentität
Denkmalpflege statt Branding

Die Identität der Stadt entsteht durch ihre langfristige Geschichte sowie die Pflege ihrer Denkmäler, ihres Stadtgrundrisses und ihrer Baukultur. Individualistisches Branding verleugnet die bestehenden Eigenheiten des Ortes und leistet dem Identitätsverlust im Zeitalter der Globalisierung Vorschub.

6. Stadtgesellschaft
Stadtquartier statt Wohnsiedlung und Gewerbepark

Das Stadtquartier mit Funktionsmischung und architektonisch gefassten Räumen bildet das Grundelement der auf vielfältigen Lebensweisen beruhenden Stadt. Monofunktionale Siedlungen sowie Einkaufs- und Gewerbeparks vor der Stadt zerstören die Urbanität und verhindern die Identifikation der Stadtgesellschaft mit ihrer Stadt.

7. Stadtpolitik
Stadtbürger als Gestalter statt anonymer Immobilienwirtschaft

Städtisches Bauen soll vor allem von verantwortungsbewussten Bürgern als künftigen Nutzern getragen werden und auf einem gleichberechtigten Zugang zu einem auf der Parzelle gegründeten Bodenmarkt beruhen. Institutionelle Bauträger wie öffentliche Wohnungsbaugesellschaften oder Immobilienfonds ohne langfristiges Interesse an der Qualität des Ortes schaffen keine guten Stadtbauten.

8. Stadtökonomik
Einzelhandel statt Ketten

Die Stadtökonomie sollte stärker vom diversifizierten innerstädtischen Einzelhandel und Gewerbe getragen werden. Allein Großketten und ausgelagerte Großbetriebe machen die Stadtökonomie krisenanfälliger und vernichten urbane und selbstbestimmte Arbeitsplätze.

9. Stadtverkehr
Stadtstraßen statt Autoschneisen

Stadtstraßen sind vielfältige und wohlgestaltete Aufenthaltsräume, die neben den verschiedenen Arten des Verkehrs auch dem Einkaufen, dem Spazieren, dem sozialen Kontakt, der politischen Manifestation und dem Vergnügen dienen. Monofunktionale Autoschneisen und Fußgängerzonen zerstören die Stadt.

10. Städtische Umwelt
Nachhaltig bauen statt schnell verpacken

Die Nachhaltigkeit der städtischen Umwelt entsteht durch umfassende und solide Dauerhaftigkeit und Urbanität. Die Reduktion der notwendigen Energieeinsparungsmaßnahmen auf ölbasierte Wärmedämmverpackungen und solitäre Energiehäuser schafft die Umweltprobleme von morgen.
 

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Zum Autor

Christoph Mäckler, 1951 in Frankfurt am Main geboren, erhielt seine Ausbildung am humanistischen Gymnasium und später als Architekturstudent an der Technischen Hochschule in Aachen (Diplom 1980). Bereits 1979 wurde er mit dem Schinkelpreis ausgezeichnet. 1981 gründete er ein eigenes Büro für Architektur und Stadtentwicklung in Frankfurt am Main. Seit 1998 ist er ordentlicher Professor für Städtebau an der TU Dortmund und seit 2008 als Direktor und Begründer des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst Berater für zahlreiche Städte.