Gastronomie neu gedacht. Von der Culinary Identity zur Speisekarte.

Was wäre, wenn Ihr Unternehmen einen eigenen Geschmack und einen eigenen Geruch hätte? Das ist eine der Fragen, mit denen Antje de Vries ihre gastronomischen Konzepte in den Vorständen dieser Welt vorstellt. Worauf sie dabei hinauswill: Der Wert der gastronomischen Inspiration wird bislang völlig unterschätzt. Jeder Mensch müsse essen – und das sei womöglich die einzige Chance im Alltag, wirklich alle Sinne zu aktivieren.

An unseren Standorten in Nordhorn und Bielefeld bauen wir uns als Unternehmensgruppe gerade selbst neue Bürogebäude: „Our Office“. Nicht größer, sondern anders ist unsere Intention. Dafür braucht es natürlich auch eine individuell auf uns zugeschnittene Gastronomie. Einen Arbeitstitel gab es von Beginn an: „Our Deli“ – eine Abkürzung für „delicious“. Dieser musste aber mit Leben gefüllt werden. Auf der Suche nach einer passenden Konzept-Partnerschaft lernte das Projektteam Antje de Vries von F&B Heroes kennen und schätzen. Sie steckt mittlerweile mitten in der Ausarbeitung des Konzepts und hat meinen Kolleg:innen einen seltsamen Floh ins Ohr gesetzt: Sie kann uns als LIST Gruppe einen eigenen Geschmack und auch Geruch kreieren. Aber wie soll das funktionieren? Das will ich genauer wissen und habe mich mit Antje verabredet. In diesen seltsamen Corona-Zeiten leider nur per Video-Call, aber ich freue mich darauf, die Gastronomie gemeinsam mit ihr aus einem für mich neuen Blickwinkel zu betrachten.

Von der Culinary Identity zur Speisekarte

So beginnt unser Gespräch direkt mit einer Frage: „Hast du sofort einen ganz bestimmten Geruch in der Nase, wenn du an dein Elternhaus denkst? Und gibt es bestimmte Gerichte, die dich gedanklich sofort in deine Kindheit zurückversetzen?“ Ich nicke. „Das im übertragenen Sinn können wir auch für Unternehmen erschaffen. Es geht nicht darum, dass es exakt einen Geruch oder Geschmack gibt, der einem Unternehmen eins zu eins zugeordnet wird. Aber es muss ein Gesamtspirit entstehen, in dem die Angestellten sofort die Unternehmenskultur, aber auch dieses Gefühl des ‚Umsorgtwerdens‘ spüren.“

Und das kann eine Gastronomie wirklich leisten? „Aber ja! Wir betrachten die Arbeitnehmer:innen als eine große Food-Community mit vielen Individuen. Und genau diese beiden Aspekte verbinden unsere Konzepte. Fangen wir bei der gemeinschaftlichen Basis an. Alles, was wir konzipieren, ist grundsätzlich erst einmal vegan und nachhaltig. Wir sind die Expert:innen und nehmen uns auch das Recht für die sinnvolle Auswahl und Zusammenstellung heraus. Dann nehmen wir den Ort und die Region, die beteiligten Menschen und die Werte des Unternehmens unter die Lupe. Es entsteht eine sogenannte Culinary Identity. Wir entwickeln Würzmischungen, Marinaden, Saucen, Pestos, Dressings und Toppings, die genau zu LIST passen. Hinzu kommen saisonal und situativ wechselnde Hauptkomponenten. Es gibt unzählig viele Kombinationsmöglichkeiten, in denen zusätzlich die Präferenzen einzelner Mitarbeitenden berücksichtigt werden können.“

Das klingt in der Theorie schon einmal gut, aber was hält die Speisekarte im „Our Deli“ dann ab Sommer tatsächlich für uns bereit? „Nur damit man das jetzt nicht falsch versteht: Das ist eigentlich der Job des späteren Gastgebenden. Unser Spezialgebiet ist das Erstellen einer Grundstruktur für Gerichte, Prozesse und Zubereitungsarten im Vorfeld“, betont Antje. „Aber ich kann ja mal rumspinnen. Wir haben euch unter anderem als eine Unternehmensgruppe mit echten Macher:innen kennengelernt – sehr direkt und auf Effizienz aus. Eine Klammer, die wir deshalb mit ins Konzept geschrieben haben, ist der Pragmatismus. Gekocht, kombiniert und angerichtet wird, was Sinn macht – ohne Chichi, mit klaren Aromen und ausdrucksstark.

Da ich in Nordhorn bislang noch keine Avocado-Plantagen gesehen habe, bekommt im Herbst beispielsweise der Kürbis den Vortritt. Eingekauft beim Landwirtschaftsbetrieb um die Ecke. Das kostet vielleicht ein bisschen mehr, dafür können wir den Kürbis sehr natürlich belassen und zum Star des Gerichts machen. Und weil wir ein Baukastenprinzip für euch vorgesehen haben, könnte ein Hauptgericht mit Topping ‚Gerstenpilaw + Kürbisragout + Curry-Huhn‘ sein. Die Gewürzmischung des Ragouts und die Huhn-Marinade erhalten dabei eine spezielle LIST-Note, die man später auch in anderen Gerichten wiedererkennt. Curry ist ja zum Beispiel nicht gleich Curry und kann unorthodox, aber eben pragmatisch etwa mit norddeutschem getrockneten Sanddorn gemischt werden. Beim Fleisch gilt: Wir planen es mit Bedacht ein und Klasse geht vor Masse. Die 180-Gramm-Variante eines Schnitzels wird es also nicht geben. Die Präferenzen oder vielleicht sogar Food-Spleens der Angestellten sollen wiederum in Bowls und Salaten berücksichtigt werden. Wie wäre es zum Beispiel mit ‚Franks Kartoffel-Feldsalat-Schnitzel-Sonnenblumenkern-Bowl‘?“

Gastronomie ist immer auch eine Frage der Interaktion.

„Nehm ich“, antworte ich ihr grinsend. Und was gibt es zum Kaffee? „Die Frage ist ja immer, was das Essen für die einzelne Person leisten kann. Morgens geht es ums Ankommen, Durchstarten und Krafttanken, vormittags braucht man eher etwas für den kleinen Hunger, einen Zwischenkaffee oder ein Take-away zur Baustelle. Am Mittag wollen der große Hunger gestillt und Kraftreserven aufgebaut werden, außerdem ist der Austausch mit den Kolleg:innen wichtig. Nachmittags hilft dann noch einmal ein Power-Booster oder ein kurzer Snack als Zwischenbelohnung. Und abends kann man sowohl noch einmal zusammen anstoßen als auch Essen für zu Hause mitnehmen wollen. Ist eine Gastronomie wirklich auf ein Unternehmen und seine Angestellten zugeschnitten, dann gibt es für jedes dieser Bedürfnisse ein passendes Angebot. Schließlich müssen wir uns auf die Kundschaft einstellen und nicht umgekehrt. Und wenn es im Unternehmen zum Beispiel ein paar Nachteulen gibt, die den Power-Booster spät abends noch gebrauchen können, dann sollten sie diesen auch bekommen können. ‚Die Kantine hat geschlossen‘ geht in so einem Moment doch gar nicht. Ein negativer Kontaktpunkt, der mir als Mitarbeiterin nicht das Gefühl geben würde, dass ich hier umsorgt werde.“

Gibt es also so etwas wie eine gastronomische Interaktion, frage ich. Und wenn ja, wie kann und sollte man die gestalten? „Gute Frage“, Antje nickt energisch. „Die Gastronomie kann auch oder sogar gerade in Unternehmen so viel mehr, als die Mitarbeitenden satt zu machen. In der Konzeptionsphase lohnt es sich, sich ganz intensiv mit möglichen Querverbindungen und Interaktionspunkten auseinanderzusetzen. Die Essensvorschau ist zum Beispiel so ein Thema. Wie gestalte ich die, wo platziere ich sie und biete ich eine Plattform für Reaktionen an? Oder wie läuft die Reservierung ab – ganz fancy und digital oder vielleicht doch besser beim Gastgebenden persönlich? Hier versuchen wir, den Blick unserer Auftraggebenden zu weiten, uns von gewohnten Mustern zu lösen und Lösungen zu finden, die wirklich zu den Unternehmen passen und auf die Kultur einzahlen. Das funktioniert manchmal durch banale Dinge wie die Laufweg-Gestaltung, weil man allein schon damit das persönliche Gespräch zwischen Gast und Gastgebenden fördern kann.“ 

Projektentwicklungen können den nächsten Schritt gehen.

Dass sich Unternehmen in dieser Art und Weise mit dem Thema Gastronomie auseinandersetzen, leuchtet ein. Indirekt wird Zeit und Geld in die Unternehmenskultur investiert. Was können die Konzepte von F&B Heroes aber in der freien Wirtschaft leisten, frage ich Antje. „Gerade für Mixed-Use-Immobilien schafft unsere Herangehensweise in meinen Augen einen Mehrwert. In der Regel arbeiten Trader-Developer mit Gastronomie-Ketten zusammen. Das ist gelernt und einfach, denn Konzept und Betreiber:in sind in einem gefunden. In der Zusammenarbeit mit uns ist die Planungsphase intensiver. Und da das Konzept mehr Priorität als die Gastgebenden hat, gilt es, die vertragliche Konstellation zu klären. Womöglich werden Gastgebende zum Beispiel ‚nur‘ angestellt und die Projektentwicklung mietet die Flächen an. Dafür werden bei einer so detaillierten Planung bauliche Voraussetzungen und Investitionen, die sich auf die Gastro-Flächen beziehen, ausschließlich bedarfsgerecht und damit nachhaltig geschaffen und eingesetzt. Außerdem können wir ein Angebot kreieren, das sowohl auf den Standort als auch auf die Zielgruppe des Objekts abgestimmt ist. Mit einem ausgeklügelten Konzept können wir zum Beispiel Gästezeiten steuern oder inhaltlich mit den anderen Nutzungen der Immobilie kommunizieren. Essen ist etwas so Übergeordnetes und wir müssen lernen, nicht mehr so stark in Kategorien zu denken. Nur weil in einer Immobilie ein ‚Low-Budget-Hotel‘ untergebracht ist, heißt das im Umkehrschluss nicht automatisch, dass die Besucher:innen beim Essen den Fokus auf einem niedrigen Preis haben.“

Verstehe ich das richtig: Die Projektentwicklung liefert der Person, die das Projekt gekauft hat, das gastronomische Konzept, aber keinen klassischen Betreibenden mit? „Ja genau.“ Und wie sieht es dann mit dem Thema Weiterentwicklung aus – dafür ist ja sonst der Betreibende zuständig. „Das ist auch Teil unseres Angebots. Wir verfügen über ein internationales Netzwerk an Food-Expert:innen und wissen deshalb genau, was sich am Markt tut. Die perfekte Grundlage dafür, Konzepte von heute ins Morgen zu überführen. Außerdem können wir das Monitoring und Controlling übernehmen und in dieser noch neuen Konstellation somit eine hohe Transparenz ermöglichen. Und weil wir alle auch erfahrene Gastronom:innen sind, können wir im Fall der Fälle auch mal ein Interimsmanagement übernehmen.“ 

Während des letzten Satzes hat Antje den Raum gewechselt und steht jetzt vorm Herd. „Ich kann allen nur empfehlen, sich darauf einzulassen, die Gastronomie neu zu denken. Der übergeordnete Nutzen von gastronomischer Inspiration hat definitiv einen echten Wert, der gegebenenfalls auch über die anderen Nutzungen in der Immobilie mit querfinanziert werden kann.“ Mittlerweile rührt sie mit einem Holzlöffel im Topf vor ihr. „Ich müsste mich jetzt wieder der Pasta widmen, sonst inspiriere ich mit dem Essen gleich niemanden mehr.“ Die Verabschiedung geht schnell, denn eines habe ich in jedem Fall verstanden: Das Essen hat für Antje oberste Priorität.

Über Antje de Vries.

Als Kind entfloh sie der norddeutschen Küste zum Schüleraustausch nach Texas und fand dort die Liebe ihres Lebens: die Begeisterung für gute Lebensmittel als Geschenk der Natur, die Faszination der Verarbeitung, ihre Leidenschaft fürs Kochen, die Neugier an fremden Kulturen und die große Freude daran, Menschen mit Essen zu erreichen und zu verbinden. Seit vier Jahren reist sie als Beraterin für gastronomische Konzepte, Produkt-Scout und Köchin durch die Welt und macht, woran sie Spaß hat: immer wieder Neues entdecken und ausprobieren, mit spannenden Leuten und faszinierenden Produkten arbeiten. In den Medien wird sie als Food-Nomadin gefeiert, denn sie hat mittlerweile sogar ihre Wohnung für ihre Leidenschaft aufgegeben. Alles, was sie fürs Leben braucht, sind das Essen, das Reisen und ein paar Dinge, die in einen kleinen Rucksack passen. Sie hat ihre Mission gefunden: Connecting people through food!