Schluss mit Zettelwirtschaft – digitale Unterstützung für die „Brückenspechte“.

Das Ausmaß an Brücken im deutschen Straßennetz ist gigantisch. Allein zum Netz der Bundesfernstraßen gehören rund 39.500 Brücken, aneinandergereiht ergeben sie eine Stecke von 2.100 Kilometern. Für die Sicherheit dieser Bauwerke sind die deutschen Bauwerksprüfer zuständig. Seit Jahrzehnten überprüfen sie mit Hammer und Messgerät unsere Brücken. In den letzten Jahren nahm der Aufwand der Prüfung jedoch durch Alterung der Bauwerke und steigenden Verkehr immer weiter zu. Die Bauwerksprüfung braucht Unterstützung. Und die kommt aus der digitalen Ecke. Einzelne technische Hilfsmittel und Tools sollen dem Prüfer die Arbeit erleichtern, in Kombination wird daraus eine Vision, die mehr nach Science-Fiction klingt als nach Realität.

Am 14. August 2018 stürzt im italienischen Genua die Morandi-Brücke unerwartet ein. 43 Menschen sterben, unzählige weitere werden verletzt. Fast zwei Jahre danach, im April 2020, wird an derselben Stelle das Richtfest für die neue Brücke gefeiert – während die Gründe des Einsturzes immer noch nicht aufgeklärt sind. Allerdings sind bereits einige Personen unter einem schlimmen Verdacht verhaftet worden: Über den Zustand der Brücke seien geschönte Berichte verfasst worden. Wie marode sie wirklich war, sei verschleiert worden. So oder so, die Morandi-Katastrophe hat die Frage nach der Sicherheit der Brücken auch hierzulande aufgeworfen. Schaut man sich das deutsche System zur Brückenprüfung an, bekommt man allerdings nicht das Gefühl, dass hier unsauber gearbeitet wird. Im Gegenteil: Wir haben in Deutschland eines der sichersten Systeme der Welt.

Ein bewährtes System.

Um die Verkehrssicherheit, Dauerhaftigkeit und Standsicherheit von Brücken zu gewährleisten, gibt es die Norm DIN 1076. In dieser Norm ist geregelt, wie und wann Brücken und andere Ingenieurbauwerke (zum Beispiel Brücken, Stützwände, Tunnel und Lärmschutzwände) überprüft werden müssen. Dazu zählen eine alle sechs Jahre anfallende Hauptprüfung, die alle drei Jahre stattfindende einfache Prüfung und jede Menge weiterer Prüfungen in Einzelfällen. Das Ziel ist es, Schäden rechtzeitig zu erkennen und zu beheben – noch bevor ernstere Folgen eintreten. Also ähnlich wie bei unseren Pkw, die alle zwei Jahre zur Hauptuntersuchung müssen. Auf die Prüfer kommt dabei viel Arbeit zu: Außer für die allein zum Netz der Bundesfernstraßen gehörenden rund 39.500 Brücken sind die Bundesländer für rund 27.000 weitere Brücken im Zuge von Landes- oder Staatsstraßen zuständig. Darüber hinaus tragen zudem die Kommunen, Kreise, Wasserschifffahrverwaltungen und Bahnbetreiber für die Erhaltung der Brücken in ihrem Einzugsgebiet die Verantwortung. In der Summe wird die Zahl der deutschen Straßenbrücken aller Baulastträger auf über 140.000 geschätzt. Eine ganze Menge.

Aber wie wird dann eigentlich so eine Prüfung durchgeführt? Der Prüfer nimmt sein wichtigstes Werkzeug – einen Hammer – in die Hand und klopft die gesamte Brücke ab. Das Geräusch, das dabei entsteht, ähnelt dem eines Spechtes, weswegen Brückenprüfer auch liebevoll „Brückenspechte“ genannt werden. Was erst einmal seltsam klingt, hat seine Berechtigung. Es dient dem Auffinden von Hohlräumen und Abplatzungen. Neben zahlreichen anderen Aspekten gehört die Prüfung mit „Auge und Ohr“ zur „handnahen“ Prüfung in der DIN-Norm.

Herausforderungen mit Digitalisierung begegnen.

Diese bisherige Vorgehensweise hat sich zwar über die Zeit bewährt, dennoch zeichnen sich in den letzten Jahren vermehrt Herausforderungen ab: Zahlreiche Bauwerke wurden in den Sechzigern oder Siebzigern gebaut und sind in zunehmend schlechtem Zustand. Gleichzeitig müssen Brücken immer größer werdende Lasten durch ein erhöhtes Verkehrsaufkommen aushalten. Für die Prüfer bedeutet das einen größeren Aufwand. Sie brauchen Unterstützung, damit sie die Qualität in den kommenden Jahrzehnten weiterhin sicherstellen können. Lösungsansätze gibt es bereits, einige davon sind schon Realität, andere werden derzeit noch untersucht. Eines haben sie alle gemeinsam: Sie zielen auf eine Unterstützung der gesamten Brückenprüfung durch digitale Hilfsmittel ab. Damit wird die Prüfung vor Ort mit dem Büro verbunden, analoge Lücken werden geschlossen und somit wird der Prüfer entlastet.

Die Forschung läuft auf Hochtouren.

Ein Forschungsteam aus LIST Digital, HHVision, dem Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT und der Hochschule Bochum entwickelt beispielsweise derzeit einen Demonstrator für die Bundesanstalt für Straßenwesen (kurz: BASt). Mithilfe von BIM-Komponenten sowie Elementen der Virtual und Augmented Reality (kurz: VR/AR) soll dieser alle für den Lebenszyklus eines Bauwerks relevanten Daten zeit- und ortsunabhängig digital nutzbar machen. Erprobt wird das Ganze am Beispiel einer Brücke, die sich in Nürnberg befindet. Mit dem entwickelten Demonstrator soll der Prüfer zukünftig die zu prüfenden Stellen auch über eine AR-Ansicht direkt erkennen und mit früheren Bildaufnahmen sowie Prüfungsunterlagen vergleichen können – ganz digital und ohne Zettelwirtschaft, die bei der Prüfung stört. Verknüpft werden die Daten dann mit einem VR-Modell, das im Büro nutzbar ist und auf das nicht nur er, sondern auch alle anderen Beteiligten zugreifen können. „Das spart Zeit. Eine aufwendige Vor- und Nachbereitung der Prüfung könnte dadurch wegfallen, der Prüfer kann also viel effektiver arbeiten“, erklärt Sascha Bahlau, Geschäftsführer und Gesellschafter von LIST Digital, der gemeinsam mit seinen Kollegen von LIST Digital das Projekt leitet. Mit welchem technischen Hilfsmittel auf die Anwendung zugegriffen werden kann, prüft das Team derzeit noch – weit vorn im Rennen ist das Tablet, da es besonders praktikabel ist und viele Prüfer derzeit schon eines bei sich tragen. Aber auch die Nutzung von AR-Brillen prüft das Projektteam weiterhin.

 

Und wie kann so eine Anwendung eigentlich aussehen und funktionieren?

Martin Hennrich: „Derzeit steht noch nicht fest, wie diese Anwendung im Detail angelegt werden soll. Gemeinsam mit dem Projektteam von Dr. Leif Oppermann des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informationstechnik FIT stecken wir noch mitten im Forschungsprozess. Dennoch haben wir natürlich schon Ideen, wie das Ganze in der Realität aussehen kann: Stellen Sie sich einen Bauwerksprüfer vor, ausgestattet mit seinem Tablet und der sonstigen Ausrüstung, die er für seine Prüfung braucht. Alle Informationen, Dokumente und Hilfsmittel werden dann im Tablet gebündelt sein. Die Anwendung erkennt anhand von Referenzpunkten, wo sich der Prüfer befindet. Dann geht es los. Der Bauwerksprüfer beginnt mit der handnahen Prüfung. Das Tablet unterstützt ihn dabei, Schäden aus vorangegangenen Prüfungen aufzufinden.

‚Drei Meter geradeaus und dann zwei nach links‘ zeigt die Anwendung an. Der Prüfer folgt der virtuellen Spur wie bei Google Maps, bis er an eine Wand im Inneren der Brücke gelangt. Über Augmented Reality (AR) erscheint dann zum Beispiel auf dem Display ein Prüfpunkt mit Informationen und Fotos der letzten Untersuchung. Ein Riss, der erneut kontrolliert werden muss. Mit dem digitalen Messstab im Tablet kann die Größe des Risses gemessen und gleichzeitig dokumentiert werden – zwei Zentimeter größer als beim letzten Mal. Als Notiz: Schadensgutachten erstellen.

Nächster Schritt. Er dreht sich nach rechts und führt seine Prüfung fort. Das Tablet gibt einen Warnton ab – der Prüfer hat einen Schaden übersehen. Station für Station grast der Prüfer so einen Punkt nach dem anderen ab. Danach tritt er wieder aus dem Bauwerk an die frische Luft, wo er auch wieder Internetempfang hat. Das Tablet gibt ein Geräusch von sich – die Daten wurden über eine Cloud in das Modell übertragen. Zurück im Büro sieht er sich dann das Bauwerksmodell erneut digital in der VR-Brille an. Die Ergebnisse der letzten Prüfung sind im Modell markiert, die akut zu reparierende Stelle wird mit einem Ausrufezeichen angezeigt. Durch die digitale Anwendung und Dokumentation spart der Prüfer Zeit. Und alle weiteren am Prüfprozess Beteiligten profitieren: Sie wissen auf einen Blick, wo Handlungsbedarf besteht, und können Informationen und Folgeaufträge direkt an spezialisierte Betriebe weitergeben.“
 

In anderen Forschungsprojekten versucht man, andere Technologien zu nutzen, um die Bauwerksprüfung zu vereinfachen. Im Forschungsprojekt „Digitale Instandhaltung von Eisenbahnbrücken“ (DiMaRB) untersucht ein Forschungsteam beispielsweise, wie sich mithilfe von Sensoren die Bauwerksentwicklung von Eisenbahnbrücken prognostizieren lässt. 

Drohnen und Co. sind bereits im Einsatz.

Neben diesen und zahlreichen weiteren Forschungsprojekten finden bereits einige Methoden regelmäßige Anwendung. Dazu gehören unter anderem Tunnelscanner, Seilbefahrungen oder der Einsatz von Drohnen. Ersteres bezeichnet ein Verfahren, bei dem ein auf einem Fahrzeug montierter, rotierender Laser den Tunnel von innen scannt. Auffälligkeiten werden dadurch sichtbar und können im Anschluss in einer handnahen Prüfung begutachtet und bewertet werden. Dieses Verfahren erfüllt zum einen die Vorgaben der DIN 1076 und hat zum anderen den Vorteil, dass in kleinerem Ausmaß und kürzer in den Straßenverkehr eingegriffen werden muss. Ähnlich zu diesem Verfahren verhält es sich mit automatisierten Seilbefahrungen. Hiermit lassen sich Schäden an den Schrägseilen von Brücken erkennen. Dabei fährt ein Gerät die Seile entlang, nimmt dabei magnetinduktive Messungen vor und macht Bildaufnahmen der Oberfläche. Besonders bei großen Ingenieurbauwerken werden zudem Fluggeräte wie Drohnen eingesetzt. Mit ihnen lassen sich Bilder von Stellen aufnehmen, die sonst nur schwer für die Prüfer zu erreichen sind, wie zum Beispiel große Pfeiler. Allerdings stehen bei der Nutzung noch verschiedene Aspekte zur Diskussion. So zum Beispiel: Darf eine Drohne das Bauwerk umfliegen oder lenkt sie die Autofahrer ab?
 

Ein Zukunftsszenario.

An Ideen mangelt es für die digitale Bauwerksprüfung also nicht. Aber wie weit kann das Ganze eigentlich noch gehen? Fragt man Sascha Bahlau, dann noch sehr viel weiter, als wir uns heute schon vorstellen können: „Denkbar ist ein sich selbst verwaltendes Bauwerk. Es misst konstant Veränderungen mit einer Kombination aus mechanischen, optischen und akustischen Sensoren. Diese Werte interpretiert dann eine KI und gleicht sie mit dem Bauwerksmodell ab. Falls es nötig ist, beauftragt sie eine Fachfirma, die dann den Schaden repariert. Das Aufgabengebiet der Brückenprüfer wird sich wesentlich verändern – eine Kontrollinstanz wird es trotzdem immer geben, denn wer überwacht sonst die KI?“

Prof. Martin Mertens: Digitalisierung der Bauwerksprüfung geht nicht ohne Prüfer.

„Innerhalb des kommenden Jahrzehnts wird sich die Arbeitswelt des Bauwerksprüfers erheblich verändern. Das liegt vor allem an den Entwicklungen aus dem digitalen Umfeld, die die Bauwerksprüfung in Zukunft unterstützen werden. Derzeit sind einige meiner Kollegen noch skeptisch gegenüber diesen digitalen Verfahren. Ich bin mir allerdings sicher: Die Qualität und Aussagekraft der Prüfergebnisse wird sich signifikant verbessern. Und auch die Handhabbarkeit und Umsetzbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse wird sich durch ihren Einsatz deutlich erweitern und vereinfachen.

Bedenkenträger mögen hier den Untergang oder gar die ‚Wegrationalisierung‘ des Bauwerksprüfers befürchten. Das Gegenteil wird jedoch der Fall sein: Bauwerksprüfingenieurinnen und Bauwerksprüfingenieure bilden das unverzichtbare Rückgrat digitaler Systeme. Denn sie stehen letztendlich mit ihrem Namen für Standsicherheit, Dauerhaftigkeit und Verkehrssicherheit der Bauwerke ein. Und – ganz wesentlich – sie liefern weiterhin das, was digitale Systeme nicht besitzen: jahrelange, häufig jahrzehntelange Berufserfahrung und eine solide Ausbildung. Darüber hinaus zeichnet sich ein guter Bauwerksprüfer durch ‚das richtige Bauchgefühl‘ für das Bauwerk aus. Und das kann keine technische Lösung ersetzen.“

 

Zur Person.

Prof. Martin Mertens lehrt an der Hochschule Bochum technische Mechanik, Baustatik, Brückenbau und Ingenieurholzbau. Darüber hinaus führt er seine eigene Ingenieurgesellschaft, die unter anderem Bauwerksprüfungen durchführt. Auch er arbeitet an dem Demonstrator für die Bundesanstalt für Straßenwesen mit und kümmert sich vor allem darum, dass die Lösung später für die Realität der Bauwerksprüfung geeignet ist.

Zur Person.

Martin Hennrich, Geschäftsführer von HHVISION, ist Experte für Augmented sowie Virtual Reality. Gemeinsam mit LIST Digital, der Hochschule Bochum und dem Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik FIT arbeitet HHVISION im Rahmen eines Forschungsprojektes für die BASt an einem Demonstrator, der die Bauwerksprüfung durch die Verknüpfung von BIM-Komponenten mit Elementen von Virtual Reality sowie Augmented Reality erleichtern soll. Hennrich und seine Kollegen sind hier unter anderem für die Gestaltung der Anwendung zuständig.