Mann mit verschränkten Armen blickt in die Kamera.
Quelle: a|w|sobott, André Sobott

Wundertüte Bestand? Ein Schatz mit viel ungenutztem Potenzial!

Das Bauen im Bestand ist mit so einigen Vorurteilen belastet. Denn im Gegensatz zum reinen Neubau wissen wir nicht immer genau, woran wir sind. Überraschungen gehören mit zur Tagesordnung. Zeitgleich sind uns aber auch das Potenzial des Bestandes und die Notwendigkeit der Revitalisierung schon allein aus Nachhaltigkeitsaspekten bewusst.

Heißt es Abriss mit anschließendem Neubau oder Revitalisierung, fiel die Entscheidung bislang oft ganz selbstverständlich gegen den Erhalt des Bestandes aus. Alles viel zu kompliziert und unsicher. Aber das Blatt wendet sich. Der Nachhaltigkeitsgedanke sorgt für ein Umdenken. Und Herausforderungen können eben auch Chancen sein. 

Wir haben uns einmal typische Herausforderungen und unseren Baupraktiker Lothar Lühr geschnappt. Denn unsere Kolleg:innen von LIST BiB Bielefeld sind Profis für die Revitalisierung von Immobilien. Eines der aktuellen Projekte unserer Bestandsbau-Spezialist:innen ist das Carlswerk in Köln, Lothar und sein Team haben einem Teil der alten Kupferwerkhalle im Auftrag der BEOS AG ein neues Leben gegeben.

Mut zur ausführlichen Grundlagenermittlung.

„Welche Lösung für ein Bestandsobjekt wirklich sinnvoll ist, kann man erst beurteilen, wenn man die Ausgangssituation ganz genau kennt. Das verursacht aber einen enormen Aufwand, der oft gescheut wird. Also werden viele Gebäude heute noch viel zu schnell und leichtfertig abgerissen“, erklärt Lothar, als wir über die grundlegenden Fragen sprechen, die sich immer vor Projektstart ergeben. Die Grundlagenermittlung bildet den Startschuss des Projektes. Mit ihrer Hilfe werden Fragen geklärt wie: Wie gut ist die Substanz des Bestandsgebäudes erhalten? Welche Infrastruktur liegt vor? Welche Bauteile sind tragend? Welche Nutzungen passen zu dem Gebäude? Oder wie ist die Beschaffenheit des Grundstücks? Die Antworten auf all diese Fragen bilden die notwendige Basis für den weiteren Verlauf und die Voraussetzung dafür, das Gebäude richtig einzuschätzen und die optimale Planung zu erstellen.

Warum sich dieser Aufwand aber auszahlt, kann Lothar am Beispiel des Carlswerkes zeigen. Innerhalb der Grundlagenermittlung hat sich herausgestellt, dass das Grundstück in einem Erdbeben-Gebiet liegt und dass das Gebäude nicht ideal darauf vorbereitet ist. Ein Faktor, der nach einem Ausschlusskriterium klingt, aber keines ist, wenn er in der Planung richtig berücksichtigt wird. So wurden die Zwischenebene und die „innere Halle“ abgekoppelt vom Bestandsgebäude hineingebaut. Damit ist sichergestellt, dass sie für sich allein stehen und Erdbebenlasten nicht auf den Innenraum und die äußeren Mauern gleichzeitig wirken. 

„Ebenso stand im Zuge der Grundlagenermittlung schnell fest, dass in der ursprünglichen Produktionshalle so gut wie keine Technik vorhanden war. Das ist zwar eine Feststellung, die schnell gemacht ist“, erklärt Lothar, „aber eben auch eine, die in diesem Fall gute Argumente für die Revitalisierung lieferte.“ Denn es war eine Umnutzung geplant, bei der in der Regel auch viel an der technischen Infrastruktur erneuert werden muss. In dieser nackten Halle konnte man mit der TGA-Planung ausnahmsweise auf einem weißen Blatt starten. Das hatte durchaus auch mal seinen Charme für das Projektteam. Das erzeugte TGA-3D-Modell entsprach somit definitiv der gebauten Realität und bot im Projektverlauf eine optimale Orientierung für alle Projektbeteiligten: Sitzen die Rohre an der richtigen Stelle, kollidieren sie auch nicht mit anderen Rohren oder verlaufen die Elektro-Leitungen so, wie sie es sollen und wie sie schließlich genutzt werden können?

Auch wenn eine gute Grundlagenermittlung kein Garant dafür ist, dass alles glattgeht, beugt sie den meisten bösen Überraschungen vor. Es ist immer sinnvoll, die Ausgangssituation zu analysieren, Informationen über den Zustand zu sammeln, um dann in die Planung einzusteigen. „Einen Grillabend mit Freund:innen würde man ja auch nicht einfach starten, ohne vorher zu prüfen, ob überhaupt ein Grill vorhanden ist – oder?“, sagt Lothar grinsend.

Gestaltungsspielraum kennen, Kreativität zulassen.

Wenn man an das Bauen im Bestand denkt, kommt einem womöglich schnell in den Sinn, dass der vorhandene Raum nicht den eigenen Vorstellungen oder dem Nutzungskonzept entspricht. Auch ein Grund dafür, dass eine Revitalisierung schnell abgewunken wird. Der völlig falsche Weg, findet Lothar. „In der Regel lässt sich der vorhandene Raum immer anpassen. Die zur Verfügung stehenden Flächen bieten enorm viel Gestaltungsspielraum und nicht selten liefert eine bestehende Immobilie noch viel mehr Inspiration als eine freie Fläche.“ Das Carlswerk lässt von außen noch vermuten, wie es früher genutzt wurde. Innen dagegen erscheint nichts mehr, wie es ursprünglich aussah. „Wir haben hier eine große Veranstaltungshalle mit zentraler Tribünentreppe, hochwertige Bürolofts und flexible Hallen, außerdem diverse Lagerflächen in das Gebäude gezaubert“, zeigt sich Lothar stolz. „Und das macht es doch aus: der Charme der alten Klinkerfassade, die alten großen Fenster, kombiniert mit komplett neuen Nutzungsmöglichkeiten im Innenraum.“

Wo einst das erste transatlantische Telefonkabel hergestellt wurde, finden sich heute modernste Büroräume. Die Zwischenebene im Carlswerk, die ursprünglich überhaupt nicht vorhanden war, bietet jetzt Raum für kreatives, neues Arbeiten. Durch das Setzen von Trockenbauwänden im Erdgeschoss sind völlig neue Möglichkeiten entstanden: eine Multifunktionshalle mit Raum für Besprechungen, für Veranstaltungen oder zum Zurückziehen. „Mit genügend Kreativität im Gepäck kann man sehr viel bewegen. Hier zum Beispiel, finde ich, ist die Veranstaltungstreppe das absolute Highlight. Aus einer kleinen Idee ist schnell ein gebäudeprägendes Element geworden“, teilt Lothar seine Einschätzung mit uns.

Eine weitere Herausforderung sind die in die Jahre gekommenen Energiestandards. Die meisten Gebäude, die revitalisiert werden, haben ein langes Leben hinter sich. Das bedeutet, sie wurden vor vielen Jahren errichtet und sind dementsprechend nicht auf dem heutigen energetischen Stand. Sie sind womöglich schlecht gedämmt und besitzen in die Jahre gekommene Fenster. „Hier sind die Möglichkeiten vielfältig, den Bestand mit erneuerbaren Energien in die heutige Zeit zu überführen – kein Grund, ein Gebäude abzuschreiben“, so Lothar, der mit seinem Team und den Kolleg:innen von LIST Ingenieure das Carlswerk in Köln vollständig energetisch revitalisiert hat.

Es wurden ein neuer Heizungsverteiler und eine Kältemaschine eingebaut. So kann im Betrieb mithilfe von Heiz-Kühl-Segeln im Gebäude geheizt oder gekühlt werden – je nach Bedarf. Die ursprünglich vorhandenen Dach- und Außenflächen des Gebäudes hätten aufgrund der alten, zu geringen Dämmung einen erheblichen Energieverlust bedeutet. Die Energie wäre förmlich durch das Dach hinausgeflogen. Und auch die Technik entsprach nicht mehr dem aktuellen Stand. Daher wurde sie im Zuge der Sanierung erneuert. Ebenso die Decke des Kellers hat in dem Zuge ein Nachhaltigkeits-Upgrade bekommen. Damit die Kälte nicht nach oben in die Büroräume gelangt, wurde auch sie entsprechend gedämmt. 

Neue Möglichkeiten durch weniger Bestandstechnik.

Anfangs haben wir mit einem Effizienzhaus-100-Standard geplant. Er hätte mit geringem Ertüchtigungsaufwand erreicht werden können. Da aber bereits aus dem EnEV-Nachweis für die Nutzung ein sehr gutes Ergebnis erzielt werden konnte, wurde im Zuge der weiteren Ausführung auf den Effizienzhaus-100-Standard verzichtet. „Die Tatsache, dass ursprünglich so gut wie keine Technik vorhanden war, hat uns auch Möglichkeiten geschaffen“, erklärt Lothar. „Wir hatten einen großen Spielraum, um die Elektrik, die Lüftung, Heizung und Sanitär sowie die Gebäudeautomation entsprechend der neuen Nutzung komplett neu zu entwickeln und einzubauen.“ Mithilfe der Anpassungen wurde aus der ehemaligen Produktionshalle ein Gebäude, das energetisch dem neuesten Stand entspricht.

Manchmal geht aber sogar noch mehr: „Auch im Bestand sind erneuerbare Energien eine echte Option, das haben viele nicht auf dem Schirm. Solar- oder Photovoltaik-Anlagen auf dem Dach oder Geothermie sind denkbare Möglichkeiten“, erklärt Lothar. Das war bei dem Gebäude in Köln so jedoch nicht möglich, da das Dach die Last der Installationen nicht getragen hätte und extrem viel Tageslicht verloren gegangen wäre. Und da es sich in Köln um ein komplett bebautes Quartier handelt, gab es keine Fläche für die notwendigen Bohrungen für eine Geothermie-Anlage. Am Ende können Bestandsimmobilien häufig aber sogar auf den gleichen Stand gebracht werden wie neu gebaute Immobilien.

Den großen Schatz Bestand nutzen.

Was ist also der richtige Weg, wenn man vor der Entscheidung pro oder contra Revitalisierung steht? Zunächst noch einmal genauer hinschauen und überlegen, ob die Herausforderungen nicht doch Chancen sind, die man nutzen kann. Und wenn wir uns einmal ganz ehrlich unsere Umwelt anschauen, dann wissen wir doch auch: Uns stehen nur begrenzte Ressourcen an Platz – insbesondere in den Städten – zur 
Verfügung. Außerdem ist es wichtig, die bisher verbauten Materialien zu schützen, sie nicht zu Müll werden zu lassen und Energie zu sparen. Also nutzen wir doch diesen großen Schatz und legen den Fokus mehr auf den Erhalt bestehender Immobilien. Lothar ist sich sicher: „Vieles ist im Bestand möglich und grundsätzlich muss man eine Umnutzung immer in Betracht ziehen.“

Mann mit verschränkten Armen blickt in die Kamera.
Quelle: a|w|sobott, André Sobott
Über das Carlswerk.

LIST BiB Bielefeld wurde von der BEOS AG mit dem Umbau einer bestehenden Industriehalle in eine neue Bürowelt beauftragt. Das Sanierungsprojekt befindet sich auf dem historischen Gelände des Carlswerk in der Schanzenstraße in Köln-Mülheim. Die BEOS AG hat das Areal Ende 2007 von nkt cables übernommen. Seitdem werden die Gebäude zu hochwertigen Bürolofts und flexiblen Hallen- und Lagerflächen für Gewerbe, Dienstleistung und Produktion umgebaut. So unter anderem auch die ehemalige Kupferwerkhalle, die LIST BiB Bielefeld in Teilen revitalisiert.