Sicheres Bauen im Erdbebengebiet Deutschland?

Nicht jeder denkt beim Thema Erdbeben an Mitteleuropa – doch auch in Deutschland sind Erderschütterungen ein Risiko für Gebäude. Bauingenieure aus aller Welt haben für den "Lastfall Erdbeben" erfinderische Lösungen gefunden.

Deutschland gehört nicht zu den von starken Erdbeben bedrohten Ländern der Welt. Die Bundesrepublik befindet sich auf der eurasischen Kontinentalplatte mit ausreichendem Abstand zu den Plattenrändern, von denen die größte Gefahr ausgeht. Erdbebensicheres Bauen ist für uns also kein Thema? Eben doch. Deutschland teilt sich in insgesamt vier Erdbebenzonen (0 = keine Gefährdung bis 3 = starke Gefährdung) – tatsächlich ist auf etwas weniger als einem Viertel der Landesfläche mit stärkeren Erschütterungen zu rechnen, die nicht zu vernachlässigen sind.

Zu den betroffenen Regionen gehören die Niederrheinische Bucht westlich von Köln, die Schwäbische Alb südlich von Stuttgart sowie der Schwarzwald und die Bodenseeregion. Seismische Aktivitäten sind darüber hinaus auch im gesamten Rheintal, am Alpenrand und im Vogtland im Osten zu befürchten. 

Zwischen Boden und Beben.

Welche und wie stark Kräfte auf ein Bauwerk wirken können, hängt allerdings nicht nur von der jeweiligen Erdbebenzone ab. Auch die Art des Untergrundes, auf dem der Neubau errichtet wird, spielt eine maßgebliche Rolle – weiche Sedimente verstärken Schwingungen im Boden beispielsweise. Nachdem Bodengutachter bei einem Bauvorhaben also zunächst die Beschaffenheit und Tragfähigkeit des Untergrundes untersucht haben, geht es mit den ermittelten Bau- und geologischen Untergrundklassen für den Statiker ans Eingemachte. In Kombination mit der in der DIN-Norm festgeschriebenen Lastenannahme für die jeweilige Erdbebenzone, kann die Berechnung und statische Konzeption für die erdbebensichere Immobilie losgehen.

Mehr Geschosse machen mehr Arbeit.

Dabei gilt: Je höher die sogenannte Bodenbeschleunigung, desto größer sind auch die konstruktiven Mehraufwendungen. „Für eine herkömmliche Logistikimmobilie bedeutet das beispielsweise, dass duktile, also dehnbare Verbindungen im Tragwerksbereich eingesetzt werden müssen. Es sind aber auch bestimmte Vorkehrungen in der Gründung zu treffen. Das können Fundamente sein, die untereinander mit Zerrbalken verbunden sind“, weiß Claas Janßen. Als Projektleiter bei ft. engineering, einem Spezialisten für ganzheitliche Planung im Fertigteilbau, verantwortet er mitunter die Statik im Bereich der technischen Bearbeitung.

Durch ihre Bauweise – einfaches, oft symmetrisches Tragwerk in Kombination mit geringer Höhenlage – sind die Kompensationsmaßnahmen bei Logistikhallen als überschaubar einzuschätzen. „Richtig interessant wird es aber, wenn man es mit hohen, mehrgeschossigen (Wohn-)Gebäuden zu tun hat, bei denen das Schwingungsverhalten zum Beispiel. durch die Massen der einzelnen Geschossdecken bestimmt wird. Dann können in der Erdbebenzone 3 sogenannte Schwingungsberechnungen fällig werden: Dabei wird das Tragwerk inklusive aller relevanten Massen vollständig in 3D aufgebaut und dynamisch berechnet – ein mögliches Erdbeben wird quasi simuliert.“

Durch das Modell kann das jeweilige Bauwerk in Gänze geprüft werden. Dabei wird deutlich, welchen Beanspruchungen die Verbindungen unter anderem zwischen Wand und Decke ausgesetzt sind und ob die gewählten Steifigkeiten des Gebäudes mit den dynamischen Beanspruchungen zusammenpassen.

Neues Kartenmaterial

Forscher vom Deutschen GeoForschungsZentrum in Potsdam haben Erdbebentätigkeiten der letzten ca. 1.000 Jahre auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik samt einer Umgebung von mindestens 300 Kilometern eingehend analysiert. Das Ergebnis: Seit Mitte letzten Jahres gibt es neues Kartenmaterial, das die Erdbebenzonen in Deutschland ersetzt, die zuletzt vor etwa 20 Jahren in den Baunormen  festgeschrieben wurden. Und die überraschende Erkenntnis: In manchen Regionen haben 60 Prozent der im deutschen Erdbebenkatalog aufgeführten Ereignisse gar nicht oder ganz woanders stattgefunden.

Hohe Ingenieurskunst.

Und im Rest der Welt? Ist die Seismizität deutlich höher einzuschätzen. Dort muss man sich regelrecht Sorgen vor schweren Erdbeben machen. Und das speziell in Regionen, in denen die Kontinentalplatten der Erde direkt aufeinandertreffen oder sich aneinander vorbeibewegen. Istanbul und Tokio liegen beispielsweise in solch geologisch höchst sensiblen Gebieten. Aber auch San Francisco gehört dazu. So traf es die Metropole am 17. Oktober 1989 aus heiterem Himmel. Der San-Andreas-Graben riss auf einer Länge von 35 Kilometern auf und erschütterte um 17:04 Uhr die gesamte Region. Blauem Himmel und Sonnenschein folgten Schutt und Asche.

Dieser unvorhersehbaren Naturgewalt Herr zu werden, ist dort eine ganz andere Herausforderung als in Deutschland. Als große Gefahr machen Erdbeben in den betroffenen Gebieten aber vor allem eines: erfinderisch. So entwickeln Ingenieure immer wieder neue Strategien und Techniken, damit Gebäude bei einem Beben den immensen Belastungen standhalten. Das Ergebnis: maßgeschneiderte Lösungen für verschiedenste Bauwerke – vom Einfamilienhaus bis hin zum Wolkenkratzer. Hier lohnt es sich, einmal genauer hinzuschauen.

Luftkissen

Eine besonders wirkungsvolle Methode ist, das Gebäude vom Untergrund zu isolieren. Bei der sogenannten seismischen Isolierung versucht man also, das Bauwerk vollflächig vom Untergrund zu entkoppeln. In Japan werden so vor allem Einfamilienhäuser geschützt. Bei einem Starkbeben pumpt ein Kompressor Luft unter die Bodenplatte. Starke Erdstöße werden also von einem „Airbag“ abgefangen, der das Haus ab einer bestimmten Erschütterung um bis zu drei Zentimeter anhebt.

Gummisockel

Das Prinzip der seismischen Isolierung wird auch in der Stadt Wellington in Neuseeland angewandt. Dort schützen 150 mit Blei verfüllte Gummisockel das Nationalmuseum Te Papa. Die elastischen Säulen, auf denen das Gebäude steht, nehmen die Bewegungsenergie, die bei einem Beben frei wird, größtenteils auf und wandeln sie in Wärme um. Dadurch wird die Energie nicht auf das Gebäude übertragen.

Stoßdämpfer

In Mexiko-City wird eine andere, tonnenschwere Strategie verfolgt: So macht ein besonderes Stahlkonstrukt den 225 Meter hohen Torre Major in Mexiko-City zu den erdbebensichersten Gebäuden der Welt. 98 geschickt angeordnete Stoßdämpfer ziehen sich durch das komplette Objekt, fangen Schwingungen von allen Seiten ab und sollen Erdbeben mit Magnituden bis 8,5 aushalten.

Da die Metropole auf sehr weichem und sandigem Untergrund gebaut ist, wurde das Fundament des Wolkenkratzers zudem mit einer speziellen Technik fest im Boden verankert. Mehr als 250 Pfeiler sitzen 40 Meter tief unter der Sandschicht im Gestein. Für die verstärkte Baustruktur wurden im Torre Major mehr als 21.000 Tonnen Stahl verbaut.

Stahlkugel

Nicht nur von Erdbeben, sondern auch von Taifunen heimgesucht ist die Stadt Taiwan. Um starke Schwingungen des Gebäudes im Ernstfall zu verhindern, kommt bei dem 508 Meter hohen Wolkenkratzer Taipeh 101, der sich durch eine besonders flexible Stahlkonstruktion auszeichnet, eine riesige Stahlkugel zum Einsatz. Die über 600 Tonnen schwere Kugel fungiert zwischen dem 88. und 92. Stock als  Schwingungsdämpfer.

Wenn das Gebäude bei einem Beben also in die eine Richtung schwingt, bewegt sich die Kugel durch Massenträgheit genau in die entgegengesetzte Richtung – das Gebäude verharrt dadurch ruhig. Dass die Theorie hält, was sie verspricht, hat ein erstes Beben gezeigt, das bereits mitten in der Bauphase eingetreten ist. Kräne auf dem 56. Stockwerk kamen zwar ins Wanken und stürzten letztendlich ab, das Gebäude aber hielt stand.

Klartext.

Sind wir dem Naturphänomen Erdbeben schutzlos ausgesetzt? Eine verlässliche Methode zur Bebenvorhersage gibt es nicht. Wo und wann sie zuschlagen, ist ungewiss – in dieser Hinsicht sind wir machtlos. Die Erde wird beben. Aber wir können dagegen halten, indem wir erdbebensicher bauen. Indem wir den Risikofaktor, der von einstürzenden Gebäuden im Bebenfall ausgeht, minimieren.

Aus Katastrophen wird gelernt. Forschungsergebnisse zur Erdbebengefährdung wie die vom GeoForschungsZentrum Potsdam und festgesetzte DIN-Normen geben uns einen Handlungsrahmen vor. Individuelle Lösungen, wie die oben genannten, sind dabei das Ergebnis des sich stetig weiterentwickelnden Forschungsgebietes. Eines, das vor Möglichkeiten nur so strotzt.