Quelle: Die Seenotretter – DGzRS/Kilian Westphal

Auch Schwerwetterlagen zum Trotz: Seenotretter:innen fahren raus, wenn alle anderen reinkommen.

Sie riskieren ihr Leben, um andere zu retten. Wer vor deutschen Küsten in Gefahr gerät, kann auf die Seenotretter:innen vertrauen. Seit 156 Jahren fahren sie mit ihren Booten hinaus und helfen Menschen in Seenot. Eine von ihnen ist Melanie Heuser. Die 36-Jährige ist ehrenamtliche Seenotretterin auf der Insel Sylt. Auch bei Sturm und Dunkelheit fährt sie raus aufs Meer. Die Nordsee darf man nicht unterschätzen, sagt uns die Bankkauffrau.

„Es ist egal, wann der Einsatz kommt. Wenn er kommt, fahre ich raus“, sagt Melanie Heuser. Sommers wie winters. Tag wie Nacht. Das Wetter spielt keine Rolle. Es zählt nur ein Ziel: Menschen aus dem Meer zu retten. Sie hat schon oft erlebt, dass mitten in der Nacht ihr Handy piept, weil ein Alarm ausgelöst wurde. „Wenn der Wind ums Haus heult, es regnet und dunkel ist, fragt man sich schon: Kommen wir noch rechtzeitig?“, sagt die 36-Jährige. Doch Zeit zum Nachdenken hat sie in solchen Augenblicken nicht. Sie verlässt dann das Haus und eilt zum Hafen.

Melanie Heuser ist Seenotretterin. Ehrenamtlich. Ihre Station Hörnum liegt an der Südspitze der Nordseeinsel Sylt. Im Osten erstreckt sich das Wattenmeer, im Westen prägen starke Brandungen und Strömungen das Einsatzgebiet. „Wenn ich auf der Insel bin, bin ich in Rufbereitschaft“, sagt Heuser. Kommt ein Einsatz, während sie bei ihrer Arbeit in der Bank ist, gilt dasselbe. Dann fährt sie so schnell wie möglich die 18 Kilometer von der Inselhauptstadt Westerland hinunter zum Hafen in Hörnum. Dort am Anlieger schaukelt das Seenotrettungsboot „Horst Heiner Kneten“ im Wasser. Das freiwillige Team wird alarmiert, wenn Fischkutter Maschinenschaden oder Wassereinbruch erleiden. Oder wenn vor allem im Sommer Wassersportler:innen, die an der Nordseeküste paddeln, angeln, surfen und segeln, in Not geraten. Eine kleine Panne oder Erschöpfung kann auf See schnell zur existenziellen Bedrohung werden. Und dann ist es meist ein Wettlauf gegen die Zeit.

Wenn das Wasser ins Gesicht peitscht.

Heuser erinnert sich zum Beispiel an einen Einsatz in einer stürmischen Nacht. Die Meldung kam rein, dass ein rotes Licht auf dem Meer gesehen worden war. War jemand in Not geraten und hatte ein Leuchtmittel als Notrufsignal geschossen? Es war schwierig, die genaue Position zu bestimmen. Es gab keine Vermisstenmeldung. Trotzdem. Ein Mensch könnte in Not geraten sein. „Wir sind ausgelaufen und haben gesucht. Es war stürmisch. Von unten schlug das Spritzwasser hoch, von oben schlug uns der Regen ins Gesicht. Wir haben fast nichts gesehen und mussten doch versuchen, in dieser undurchdringlichen Dunkelheit etwas zu erkennen“, erinnert sich Heuser. „Man funktioniert einfach.“ Und richtet seine gesamte Konzentration auf den Einsatz. Irgendwann wurde die Suche abgebrochen. „Zum Glück war niemand verschwunden. Aber wenn da jemand im Meer gewesen wäre, das wäre die Nadel im Heuhaufen gewesen. Ich habe einen Heidenrespekt vor der Nordsee.“

Rausfahren, wenn andere reinkommen, das ist das Motto der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). Auf insgesamt 55 Stationen entlang der Nord- und Ostsee sind 180 festangestellte und 800 freiwillige Seenotretter:innen Tag und Nacht einsatzbereit. 365 Tage im Jahr. Sie retten Schiffbrüchige aus Seenot, versorgen Kranke und Verletzte, löschen brennende Frachtschiffe, bergen entkräftete Surfer:innen oder unerfahrene Wattwander:innen. 2020 haben die Besatzungen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger bei 1.720 Einsätzen rund 3.500 Menschen Hilfe geleistet. Allein 357 von ihnen wurden aus Seenot gerettet oder aus Gefahr befreit. Und manchmal begleiten sie sogar eine Geburt, wie Anfang April 2021, als Heusers Kollegen von der Station List im Norden Sylts eine hochschwangere Frau aufs Festland bringen wollten, das Kind aber bereits auf dem Seenotrettungskreuzer „Pidder Lüng“ zur Welt kam. 

Keine Angst, aber Respekt.

„Wir sind gut ausgerüstet, Schutzkleidung ist selbstverständlich“, sagt Heuser. Ob sie Lust hat, bei Regen, Sturm und Kälte auf das Meer hinauszufahren, gegen hohe Wellen anzukämpfen und sich die Gischt der Nordsee ins Gesicht peitschen zu lassen, das fragt sich die Bankkauffrau in solchen Augenblicken nicht. „Es war noch nie eine Frage, ob ich im Haus bleibe, weil es dort doch gemütlicher ist. Wir konzentrieren uns dann auf Fragen wie: Sitzt die Rettungsweste richtig? Wie lautet die Einsatzmeldung? Was haben wir für Koordinaten? Woran müssen wir denken?“

Heuser hat den Sportboot- und Segelschein, hat zahlreiche Lehrgänge und Fortbildungen in den Einrichtungen der Seenotretter-Akademie der DGzRS besucht, Erste-Hilfe-Schulungen und Reanimationstrainings absolviert. Regelmäßig trifft sie sich mit ihren Kolleg:innen und sie üben für den Ernstfall. Routine ist wichtig. Ebenso wie der Zusammenhalt – Seenotrettung ist immer Teamarbeit. An Bord müssen sich alle aufeinander verlassen können. „Das beruhigt auch enorm“, sagt Heuser. Sie weiß, dass manchmal auch die Retter:innen an ihre Grenzen geraten können. Dass sie nicht selten ihr Leben riskieren, um andere zu retten. Angst habe sie nicht, sagt Heuser. Respekt vor dem Meer, ja, den habe sie schon. „Man sollte die Nordsee nie unterschätzen.“ 

Mehr als 85.000 Menschen gerettet.

Vor zwei Jahren kenterten zwei Segler mit einem Sportkatamaran südwestlich von Sylt. Einer von ihnen konnte von einem vorbeifahrenden Schiff aufgenommen werden, der andere blieb zunächst vermisst. Drei Stationen der DGzRS, darunter auch die in Hörnum, sowie ein Hubschrauber wurden alarmiert. Wind der Stärke fünf bis sechs und entsprechender Wellengang erschwerten die Suche. Doch die Einsatzkräfte fanden den Mann schließlich etwa neun Kilometer südlich von Sylt in der Nordsee und brachten ihn nach Hörnum, wo er an einen Rettungswagen übergeben wurde.

Die Seenotretter:innen blicken auf eine lange Geschichte zurück. 1865 wurde die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger gegründet, und seitdem haben in den mehr als 150 Jahren die freiwilligen und hauptamtlichen Seenotretter:innen mehr als 85.000 Menschen gerettet. Mussten sie in den ersten Jahren noch mit offenen Ruderrettungsbooten gegen die Wucht der Wellen ankämpfen, steht ihnen heute eine moderne Flotte aus 20 Seenotrettungskreuzern und 40 Seenotrettungsbooten zur Verfügung, die Wind und Wetter trotzen. Die DGzRS hat ihre Rettungseinheiten strategisch so positioniert, dass sie jeden Küstenpunkt binnen einer Stunde erreichen können. Die Schiffe sind schwerwettertauglich und bestehen aus seewasserbeständigem Leichtmetall. Was die DGzRS zum Erhalt ihrer Stationen, ihrer Flotte und zur Finanzierung ihrer Mitarbeiter:innen braucht – im Jahr 2019 beliefen sich die Ausgaben auf etwa 55 Millionen Euro –, leistet sie ausschließlich durch Spenden und freiwillige Beiträge. Steuergelder erhält sie nicht. 
 

Ein Plädoyer fürs Ehrenamt.

Heuser ist die erste Frau auf Sylt, die als Seenotretterin im Einsatz ist. Und nicht nur auf der Insel ist sie damit immer noch eine Ausnahme. Unter den insgesamt 800 Freiwilligen sind lediglich 55 Frauen, unter den Festangestellten keine. Heuser hat sich schon als Kind ehrenamtlich engagiert, ist mit zehn Jahren in die Freiwillige Feuerwehr eingetreten, wurde für den Einsatz mit schwerem Gerät und Schutzanzügen ausgebildet und ist bis heute in der Freiwilligen Feuerwehr Hörnum und im ABC-Gefahrenzug der Insel aktiv. Als Bekannte sie dann vor sieben Jahren ansprachen, ob sie nicht auch bei der DGzRS mitmachen wolle, trat sie damit auch in die Fußstapfen ihres Vaters, der sich nicht nur als Seenotretter engagiert hatte, sondern auch hauptberuflich zur See gefahren ist. 

Heuser hat gerade eine Woche Urlaub. Sie hat sich während dieser Zeit als Freiwillige im Corona-Testzentrum gemeldet. Die junge Frau würde sich wünschen, dass sich mehr Menschen ehrenamtlich engagieren. Es sei auch für die Seenotretter:innen in Hörnum schwierig, Nachwuchs zu finden. „Das Ehrenamt gibt einem so viel“, sagt Heuser. „Man geht abends zufrieden ins Bett.“