Quelle: Stefano Tinti

In der Pflicht. Die Psychologie hinter dem (Selbst-)Zwang.

Es ist meine Pflicht – diese Aussage kann sowohl Rechtfertigung als auch Ausdruck der Selbstdisziplin sein. Wie uns der Psychologe Andreas Liebelt verrät, hat auch die Pflicht ihre guten und schlechten Seiten. Wagen wir einen Blick aus persönlichkeitspsychologischer Sicht.

In den Sechziger Jahren schockierte der amerikanische Psychologe Stanley Milgram mit den Ergebnissen eines psychologischen Experiments: 26 von 40 Teilnehmern waren dazu bereit, ihrem Gegenüber Schocks mit einer tödlichen Stärke von 450 Volt zu verpassen. Der Aufruhr war groß. Aber wollten die Probanden nicht eigentlich nur ihre Pflicht erfüllen? 

Wir verwenden den Begriff der Pflicht offensichtlich dann, wenn es entweder um etwas Bedeutsames geht (ethische Themen, existenztielle Themen) oder wenn etwas gegen innere oder äußere Widerstände zu tun ist, also Einsatz erfordert. Wir verwenden den Begriff der Pflicht in der Regel wiederum nicht bei Alltagshandlungen.

So ist der Satz „Es ist deine Pflicht, heute Kontoauszüge zu holen“, quasi unsinnig. Die Pflicht, eine gefundene Geldbörse bei der Polizei abzugeben, hingegen erschließt sich schon fast von selbst. Für solche Handlungen, die bedeutsam und gegebenenfalls gegen Widerstände auszuführen sind, ist eine Bewertung vonnöten. Und für diese braucht es aus Sicht der Psychologie ein gewisses „Können“. Anhand der folgenden drei Prozesse und Ebenen leite ich deshalb zunächst her, welche Voraussetzungen uns in die Lage versetzen, Pflichten zu erfüllen.

1. Denken

Wer eine Pflicht erfüllt, trifft immer auch eine Werteentscheidung und ist somit in der Lage, die dafür notwendigen Denkoperationen zu vollziehen. Dabei verändern sich laut dem kognitiven (Denk-)Modell von Lawrence Kohlberg unsere kognitiven Fähigkeiten im Laufe unserer Entwicklung von niederem, moralischem Verhalten (Orientierung an Strafe und Gehorsam) über konventionelle Pflichtbegriffe (Orientierung an Gesetz und Ordnung) bis auf höhere Moralstufen (Orientierung am Gesellschaftsvertrag oder universellen Regeln wie dem kategorischen Imperativ). Es gibt aber Menschen – man denke beispielsweise an kleine Kinder, psychisch schwer Erkrankte oder Demente – die eben genau diese Fähigkeiten nicht (mehr) aufweisen. Hier sprechen wir nicht mehr von Pflicht. 

2. Einfühlung

Wie wir immer wieder im täglichen Leben erfahren, gibt es verschiedenste Situationen, in denen sich Menschen bewusst gegen ihre „Pflicht“ entscheiden – man denke an Gaffer auf Autobahnen, die das Fotografieren der Ersten-Hilfe vorziehen. Höchstwahrscheinlich sind diese Personen sehr wohl in der Lage zu verstehen, was sie dort soeben tun. Und dass es aus unterschiedlichen Gründen ihre Pflicht wäre, dies zu lassen. Aber es ist ihnen in dem Moment „egal“. In diesem Fall fehlt es den Personen (hoffentlich nur im Moment) an der nötigen Einfühlung. Obwohl sie vom Verstande her in der Lage sind, eine korrekte Bewertung vorzunehmen, entscheiden sie sich gegen die innere Pflicht und handeln wie die Psychologen sagen „unempathisch“. Dies ist der einfühlende Teil der Pflicht, der neben den kognitiven Voraussetzungen, auch emotionale und motivationale Kompetenzen voraussetzt.

3. Affektregulation

Nach dem bekannten deutschen Persönlichkeitspsychologen Julius Kuhl ist die Regulation unserer Affekte (die Laien würden von guter Stimmung und schlechter Stimmung sprechen) eine wesentliche Voraussetzung zum Entscheiden und Handeln von Menschen. Hier gibt es das dritte Einfallstor für die Pflichterfüllung und vor allem für ihren Wegfall. Starke Affekte (negative wie positive) verhindern, dass wir die Situation überdenken und das Verhalten entlang unserer Erfahrung einordnen. Hätten wir in Ruhe nachgedacht, hätten wir pflichtbewusst reagiert. Aber der starke, positive Affekt lässt uns sagen „jetzt lieber nicht, vielleicht später“. Obwohl wir beispielsweise wissen, dass wir eigentlich arbeiten müssten, verlängern wir einfach die Pause. Und auch ein stark negativer Affekt lässt uns aus der Pflicht rutschen: Wir sagen „jetzt erst recht (nicht)“. Erst mit Abstand – sozusagen mit „kühlem Kopf“ – wird uns (wieder) klar, dass wir möglicherweise nicht einmal im Recht sind.

Die Kehrseite der Pflicht

Zusammengefasst (wenn natürlich auch nicht vollständig) könnte man also sagen, dass zur Pflichterfüllung mindestens drei Prozesse und Ebenen beleuchtet werden müssen: das Denken. Ist jemand vom Verstande her, von seinen kognitiven Voraussetzungen wie die Psychologen sagen, in der Lage, seine Pflicht zu erkennen? Die Einfühlung: Ist jemand empathisch genug und hat ausreichend emotionale Kompetenz, um einzuschätzen, was die Pflicht gebietet? Und die Affektregulation: Ist jemand in der Lage, seine schnellen und intensiven Affekte so weit zu regulieren, dass er in seinen Entscheidungen und im Handeln Platz für Denk- und Fühlprozesse schaffen und damit auch mal seine eigene Wunsch- und Bedürfniswelt für einen Moment hinten anstellen kann?

So viel zur Theorie. Was aber bedeutet das Übertragen auf die Ergebnisse des Milgram-Experiments? Eines ist schon einmal festzuhalten: Mit dem Begriff „Pflicht“ hat das Experiment allenfalls aufgrund des Abhandenseins von Pflichtbewusstsein etwas zu tun. Es geht vielmehr um Gehorsam und den Einfluss externer Autorität auf diesen. Man kann sogar behaupten, dass die Personen mit dieser „Pflichterfüllung“ genau das Gegenteil von dem zeigten, was die Persönlichkeitspsychologie als „Pflicht“ beschreiben würde. Ich kann es mir nicht so leicht machen und „einfach“ einer externen Autorität gehorchen, denn ich bin in der Pflichterfüllung an mich selbst zurückgebunden. Nicht mein Gegenüber, sondern mein inneres Werteraster gibt mir vor, was meine Pflicht ist. Bleiben zwei Fragen offen: Würde ein solches Experiment heute noch funktionieren? Und ist das (also der Gehorsam) heutzutage das, was uns an der Pflichterfüllung hindert?

Das Milgram Experiment

Im Jahr 1961 sorgte das sozialpsychologisches Experiment des amerikanischen Psychologen Stanley Milgram für Aufsehen: Der Versuch bestand darin, dass ein „Lehrer“ – die eigentliche Versuchsperson – einem „Schüler“ (ein Schauspieler) bei Fehlern vermeintlich einen elektrischen Schlag versetzte. Ein Versuchsleiter (ebenso ein Schauspieler) gab dazu Anweisungen. Die Intensität des elektrischen Schlages sollte nach jedem Fehler erhöht werden. Das erschreckende Ergebnis: Über die Hälfte der Teilnehmer war bereit, den autoritären Anweisungen Folge zu leisten, obwohl diese in direktem Widerspruch zu ihrem eigenen Werteraster stand. Sie nahmen die offensichtlichen Qualen ihres Gegenübers in Kauf. 

Eine Frage des Selbstmanagements

Zum Ersten ist festzuhalten, dass die Ergebnisse des Milgram-Experiments auch heutzutage reproduzierbar sind. 2008 wurden in den USA mit ähnlichen Versuchsanordnungen ähnliche Ergebnisse erzielt, sogar in manchen Facetten noch schlimmer (zum Beispiel wurden die Elektroschocks sogar gegeben, auch wenn Dritte im Experiment davon abrieten). Das populäre Interesse an solchen Autoritäts- und Gehorsams-Szenarien zeigt sich auch in dem hochkarätig besetzten deutschen Filmerfolg „Das Experiment“ von 2010. Dort werden junge Menschen in einem Versuch in Gefängniswärter und Insassen aufgeteilt und die (fiktive) Rollenwahrnehmung in der Realität so weit eskaliert, dass das Experiment abgebrochen werden muss. Aber ist der Gehorsam und der Umgang mit Autorität heute unser wesentliches Problem, wenn wir über mangelnde Pflichterfüllung sprechen? Oder gibt es heute daneben noch andere Möglichkeiten, „aus der Pflicht“ zu fallen? 

Mal mangelt es an Einfühlung, mal an funktionierender Affektregulation, fast nie am Verstand.

Mit Gehorsam können wir die Gaffer-Szenen von heute nicht erklären. Vielleicht schon eher mit einem (auch medial vermittelten) Voyeurismus? Wie verstehen wir Korruptionsvorfälle und Steuerhinterziehungen? Mit einer steigenden antisozialen gesellschaftlichen Haltung („Das machen doch alle!“)? Wie verstehen wir das Wegsehen in bestimmten alltäglichen Situationen? Mit einer steigenden narzisstischen Gleichgültigkeit und mangelnden Empathie in unserer Gesellschaft („Jeder kümmert sich um sich selbst.“)? Dies sind alles Beispiele für den Wegfall von Pflicht.

Mal mangelt es an Einfühlung, mal an funktionierender Affektregulation, fast nie am Verstand. Jeder von uns kann sich fragen, wo es anfängt, wo es bedenklich wird und wo es aufhört. Den Wegfall der Pflicht hat es immer schon gegeben, die Verführungsmechanismen ändern sich mit der Zeit. Diese zu erkennen, ist bei dem Thema Pflicht die eigentliche Selbstmanagement-Aufgabe. Die Persönlichkeitspsychologie moralisiert nicht, aber sie kann Hinweise zum Umgang mit Pflicht im täglichen Leben geben ...

Quelle: Stefano Tinti

Zum Autor

1965 geboren studierte Andreas Liebelt nach seinem Abitur Psychologie in Würzburg sowie Personalentwicklung in Kaiserslautern. Er ist seit 20 Jahren selbständig als Supervisor (DGSv), Coach (BDP) und Organisationsentwickler (DGGO) tätig. Darüber hinaus ist der Dipl.-Psychologe Mitglied der Studienstiftung des deutschen Volkes und seit 2012 zusätzlich Projektleiter an der Uniklinik Münster mit dem Schwerpunktthema Personal- und Persönlichkeitsentwicklung.