Bis zu 3.000 Meter hoch schichten sich die grönländischen Eismassen im Inneren der Insel auf.
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Auf der Kippe – wenn das Eis für immer schmilzt.

Je mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangt, desto stärker wird sich die Erde erwärmen. Klimaforscher:innen haben sehr genau modelliert, wie viel zusätzliche Wärme unser Planet noch einstecken kann, bevor sich die Umweltbedingungen in den ersten Schlüsselregionen dieser Welt gravierend verändern. Die Modelle zeigen: Wenn das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens nicht eingehalten wird, dann wird es brenzlich. Bei höheren Temperaturen werden die sogenannten Kipppunkte erreicht, ab denen sich Eigendynamiken entwickeln und ein Beschleunigungsprozess beginnt, der nicht mehr kontrollierbar ist. Wir haben uns einmal genauer angeschaut, was sich bei diesen für unser Erdklimasystem besonders wichtigen Elementen bereits abspielt und womöglich noch abspielen wird.

Seit dem Zeitraum zwischen den Jahren 1850 und 1900 hat sich die durchschnittliche Temperatur auf der Erde um etwa 1,2 Grad erhöht, über Land etwas mehr, über den Ozeanen etwas weniger. Grund dafür ist primär der zunehmende Ausstoß von Treibhausgasen durch die Verbrennung von Holz, Kohle, Erdgas und Erdöl sowie durch die industrielle Tierproduktion. Je größer der Anteil der Treibhausgase ist, desto mehr Wärmestrahlung bleibt in der Atmosphäre zurück, die sonst ins All entweichen würde. 

Nun hören sich 1,2 Grad zunächst nach einer Kleinigkeit an. Schließlich macht es keinen Unterschied, ob man an einem Sommertag bei 26,1 oder bei 27,3 Grad Celsius im T-Shirt auf der Terrasse sitzt. Doch um einen ganzen Planeten dauerhaft um 1,2 Grad zu erwärmen, ist eine irrsinnig große Energiemenge nötig. 

Inzwischen macht sich diese Energie immer stärker im „System Erde“ bemerkbar. Sie verändert Wind- und Meeresströmungen, verkleinert Eismassen an den Polen sowie im Hochgebirge und bedroht große Ökosysteme. Manche Regionen auf diesem Planeten reagieren besonders heftig auf die steigenden Temperaturen. Sie können aus dem Gleichgewicht geraten und dann, so die Prognosen, in einen neuen Zustand kippen. 

Drei Sachverhalte sehen die Forscher:innen dabei mit großer Sorge: 

1. Selbst wenn es gelänge, die Erdtemperatur unter den Kipp-Schwellenwert zu senken, könnte der neue Normalzustand, der für uns sehr unangenehm sein wird, dauerhaft bleiben.

2. Der neue Normalzustand könnte dazu führen, dass die Erderwärmung noch schneller voranschreitet. In diesem Zusammenhang prägten Steffen Will und seine Mitautor:innen in einem wissenschaftlichen Papier die Bezeichnung „Hothouse Earth“.

3. Kein System kippt ohne Folgen. Es besteht die Gefahr, dass das Kippen eines lokalen Systems einen globalen Dominoeffekt auslöst. 

Dünnes Eis: Hier steht das Weltklima auf der Kippe.

Wer einmal im Gebirge einen Gipfel erklommen hat, weiß, dass es mittags in großen Höhen meistens deutlich frischer ist als morgens im Tal. Mit jedem Höhenmeter sinkt die Temperatur. So verhält es sich auch in Grönland, wo sich jahrtausendealte Gletscherschichten bis zu 3.000 Meter dick auftürmen. Doch die Erderwärmung hinterlässt ihre Spuren. Jahr für Jahr verliert die arktische Insel mehr als eine halbe Milliarde Kubikmeter Eis – netto. Der Schneefall im Winter kann die Eisschmelze im Sommer schon seit Jahren nicht mehr kompensieren. Das Eis wird dünner.

Bis Grönland bei diesem Tempo eisfrei ist, dürften zwar noch rund 1.000 Jahre vergehen. Aber der Kipppunkt, an dem dieses Abschmelzen unvermeidlich wird, könnte schon in sieben Jahren erreicht sein – dann, wenn die Erderwärmung die 1,5-Grad-Marke überschritten haben wird. Zu dieser Einschätzung kam im Jahr 2022 eine internationale Gruppe von Forscher:innen der Universität Exeter, des Stockholm Resilience Center, Future Earth, und des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Ihrem Beitrag für das Science-Magazin liegt auch die Einordnung der weiteren hier genannten Kipppunkte zugrunde.

Noch ragen die Gletscher im Inselinneren weit in die kalten Luftschichten hinein. Doch je mehr die Eismassen abschmelzen, desto flacher werden sie, desto weniger reicht ihre Oberfläche in kältere Luftschichten hinein. Es ist, als würden sich die grönländischen Gletscher aus dem Kühlschrank herausschmelzen und damit ihr eigenes Ende besiegeln. Denn dort, wo ihre Reste einst liegen werden, ist es einfach nicht mehr kalt genug, um sie zu bewahren. Damit bestimmt das, was in den nächsten zehn Jahren passiert, den Verlauf von Jahrhunderten. Das meint der Begriff Kipppunkte.

Europas Heizung läuft mit Salzwasser.

Folgt man dem grönländischen Schmelzwasser in den Nordatlantik, stößt man auf gigantische Meeresströmungen. Eine von ihnen ist der Golfstrom, der Europa beständig warmes Meerwasser aus dem Süden zuführt. Ohne ihn wären die Winter hierzulande bitterkalt. Derzeit fließt das warme Oberflächenwasser aus dem mittleren Westatlantik in die eisigen Breitengrade des Nordatlantiks. Hier sinkt es vor den Küsten Grönlands und Labradors in die Tiefe und strömt am Meeresgrund zurück in den Südwesten. Dort erwärmt es sich erneut, taucht auf und durchläuft die Schleife ein weiteres Mal. 

Das Kreislaufsystem des Golfstroms hängt allerdings von einem feinen Gleichgewicht aus Wassertemperatur und Salzgehalt ab. Vermischt sich das Meerwasser im Norden mit zu viel Süßwasser aus dem Grönlandeis, wird es leichter und taucht weniger schnell in die Meerestiefen hinab. Damit aber verlöre der Golfstrom an Zugkraft, Europa müsste sich warm anziehen.

Genau das passiert bereits. Messdaten zeigen, dass der Nordatlantik die einzige ausgedehnte Region auf unserem Planeten ist, in der es seit der Industrialisierung kälter geworden ist.  Währenddessen droht im südlichen Atlantik aber ein Wärmestau. Dieser würde schwächere Monsunphasen in Afrika und Asien zur Folge haben, was zu ausgedehnten Trockenphasen im Sahel und in Teilen des Amazonas führen  würde.

Forscher:innen zeichnen ein bedrohliches Worst-Case-Szenario: Der Golfstrom und seine benachbarten Meeresströmungen könnten nach Überschreiten ihrer Kipppunkte binnen 15 Jahren (maximal 300 Jahren) kollabieren, und das schon ab einer Erderwärmung von 1,4 Grad.

Taut der Permafrost, entweichen Milliarden Tonnen Treibhausgase.

Ein Brandbeschleuniger für den Klimawandel lauert in Perma frostböden Sibiriens und Nordamerikas. Ihre gefrorenen Tiefen konservieren seit Jahrhunderten, teils sogar seit Jahrtausenden enorme Mengen an organischen Materialien wie Pflanzen- und Tierreste. Wenn die globalen Temperaturen steigen, tauen diese Permafrostböden während des Sommers nicht nur oberflächlich auf. Die Wärme erreicht dann auch tiefer liegende Schichten. Sind die im Boden liegenden Materialien jedoch erst der Verwesung preisgegeben, setzen sie enorme Mengen an zusätzlichen Treibhausgasen wie Kohlendioxid und Methan frei.

Hunderte bis Tausende Milliarden Tonnen der klimaschädlichen Moleküle könnten dadurch zusätzlich in die Atmosphäre gelangen und den Klimawandel auch ohne  Zutun des Menschen weiter beschleunigen. Auch hier ist der Schwellenwert niedrig. Der Kollaps ließe sich nur verhindern, wenn die Erderwärmung unter 1,5 Grad Celsius bliebe. Bereits knapp darüber würden die Permafrostböden innerhalb weniger Jahrhunderte kippen. Wobei Messungen im Denali-Nationalpark in Alaska sogar schon heute zeigen, dass hier der Permafrost bereits weg ist.

Schon jetzt zeugen in Sibirien gebrochene Pipelines, abgesenkte Bahnlinien und Pisten sowie versinkende Häuser Sommer für Sommer davon, wie sehr die Balance des Permafrosts bereits gestört ist. Vor den Folgen des wandelbedingten Tauwetters für sein Land warnte kürzlich sogar der russische Präsident Wladimir Putin, der sich bislang keinen Namen als Klimaschützer gemacht hatte. Doch Russland ist vom Auftauen des Permafrosts besonders betroffen: 70 Prozent des Landes liegen in arktischen Breiten, ein Großteil davon ruht auf gefrorenem Untergrund.

Der „Weltuntergangsgletscher“ kippt bereits.

Im wahrsten Sinne des Wortes auf der Kippe steht bereits heute der Thwaites-Gletscher. Er liegt derzeit wie ein schützender Riegel vor dem Inlandeis der Westantarktis und verhindert, dass die gigantischen Eismassen allmählich ins Meer rutschen. Wenn das passiert, würde der Meeresspiegel weltweit um rund drei Meter ansteigen. Forscher:innen haben dem Thwaites-Gletscher aufgrund seiner Bedeutung als Wächter des Meeresspiegels den Beinamen „Weltuntergangsgletscher“ gegeben. Seine Wächterfunktion erfüllt der Gletscher aber nicht allein. Er wird von einem schwimmenden Eisschelf unterstützt, der ihn in Position hält. Doch deuten Prognosen darauf hin, dass dieser Eisschelf im wärmeren Klima der nächsten fünf bis zehn Jahre kollabiert, weil er schneller schrumpft, als er durch Schneefall an Masse hinzugewinnen kann.

Der Schmelzeffekt im Polarmeer ist selbstverstärkend. Meerwasser, das seine reflektierende Eisschicht verloren hat, erwärmt sich deutlich leichter und beschleunigt so den weiteren Verlust des verbliebenen Eisschelfs. Verliert der Thwaites-Gletscher diese Stütze, wird er unaufhaltsam vom arktischen Festland hinab in den Ozean gleiten. In der Folge würde der westantarktische Eisschild nachrutschen, der Weltuntergang würde zumindest für die ungeschützten Küstengebiete Realität. Die Zeitskala von gemittelten 2.000 Jahren für den Zusammenbruch des westantarktischen Eisschildes mag dem begleitenden Meeresspiegelanstieg seine unmittelbare Bedrohung nehmen. Doch gehen etliche Klimaforscher:innen davon aus, dass der Gletscher den Punkt ohne Wiederkehr schon heute überschritten hat.

Telekonnektivität: Das Amazonas-Becken sorgt in Tibet für Schnee.

Auch der Amazonas-Regenwald in Südamerika spielt eine entscheidende Rolle im System der Erde. Seine Wasser- und Kohlenstoffkreisläufe beeinflussen das Klima weltweit. Auch dieses gigantische Biotop ist unter anderem durch steigende Temperaturen gefährdet. Ein Rückgang der Niederschläge aufgrund der Erderwärmung könnte den Wald in Verbindung mit fortschreitender Abholzung und Brandrodung an eine kritische Grenze bringen.

Den Schwellenwert, ab dem der Regenwald ohne den Einfluss von Abholzungen dauerhaft geschädigt würde, verorten Wissenschaftler:innen bei ungefähr 3,5 Grad Celsius Erwärmung. Sollte der Amazonas-Regenwald kippen, würde 
er sich in einen saisonalen Wald oder in eine Grassteppe verwandeln. Dieser Prozess könnte innerhalb von 50 bis 200 Jahren ablaufen. Und dies hätte verheerende Auswirkungen auf das Erdklima – etwa ein Viertel des weltweiten Kohlenstoff-Austausches zwischen Atmosphäre und Biosphäre findet in dieser Region statt.

Eine neue Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung zeigt, dass Veränderungen im Amazonas-Regenwald Hand in Hand mit Veränderungen in der Nähe des Himalaya einhergehen und auch die Stabilität anderer Klimakipppunkte voneinander abhängt. Die Forscher:innen sprechen von Telekonnektivität. Nachweisen konnten sie die Klima-Fernwirkung anhand von teils 40 Jahre zurückreichenden Temperaturdaten-Reihen aus 65.000 Gebieten der Erde.

Mit diesen Daten speisten sie aufwendige Klima-Computersimulationen und konnten zeigen, dass die Kippelemente des Erdsystems tatsächlich über große Entfernungen miteinander verbunden sind. Eine der Wirkungsketten reicht über mehr als 20.000 Kilometer von Südamerika über Südafrika und den Nahen Osten bis zum Hochland von Tibet. Konkret bedeutet das: Die Temperaturen in Tibet steigen, wenn es am Amazonas wärmer wird. Mit Blick auf den Niederschlag ist der Zusammenhang umgekehrt. Regnet es im Amazonas-Gebiet mehr, fällt in Tibet weniger Schnee – was wiederum die Wasserversorgung von Millionen Menschen in der Himalaya-Region bedroht. Sie hängt wesentlich vom Schmelzwasser aus den Bergen ab. 

Das 1,5-Grad-Ziel ist der letzte Ausweg aus der Klimakrise.

„Unsere Forschung unterstreicht, dass Kippkaskaden ein ernstzunehmendes Risiko sind. Verknüpfte Kippelemente im Erdsystem können sich gegenseitig beeinflussen, mit möglicherweise schwerwiegenden Folgen“, mahnt Hans Joachim Schellnhuber, Mitautor der Studie, in einer Veröffentlichung des Potsdam-Instituts. Der Wissenschaftler hält es zwar für unwahrscheinlich, dass das Klimasystem als Ganzes kippt. Aber er mahnt: „Subkontinentale Kippereignisse können im Laufe der Zeit ganze Gesellschaften schwer treffen und wichtige Teile der Biosphäre bedrohen. Dies ist ein Risiko, das wir besser vermeiden sollten. Und das können wir tun, indem wir den Ausstoß von Treibhausgasen rasch reduzieren und naturbasierte Lösungen zur Entfernung von CO₂ aus der Atmosphäre entwickeln.“

Noch besteht also eine kleine Chance, viele der geschilderten Prozesse aufzuhalten. Dazu müsste es gelingen, die Temperaturerhöhung auf 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau einzufrieren. So haben es im Jahr 2015 im Pariser Klimaabkommen 195 Staaten gemeinsam beschlossen. Doch mit Blick auf die erforderlichen Maßnahmen wird die Zeit allmählich knapp. Konkret müssten die Treibhausgasemissionen schon lange vor dem Jahr 2030 – also unmittelbar jetzt – massiv sinken. Bis zur Mitte des Jahrhunderts müsste sogar eine weltweite Klimaneutralität erreicht sein, die CO₂-Netto-Emissionen müssten also auf null gebracht werden.

Zwischen Notwendigkeit und Wirklichkeit klafft allerdings eine zunehmend große Lücke: Der Ausstoß von Kohlendioxid und anderer brisanter Gase ist seit der Klimavereinbarung im Jahr 2015 weiter gestiegen.