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Gibt es Erfolgsformeln für Innovation? So tickt das Silicon Valley.

Das Silicon Valley flutet seit rund zwei Jahrzehnten die Welt mit digitalen Innovationen in Serie. Die bahnbrechenden Lösungen und Services haben das Leben der allermeisten Menschen auf unserem Planeten zumindest berührt, häufig sogar nachhaltig beeinflusst. Den meisten dieser erfolgreichen Entwicklungssprünge liegt eine ganz eigene Denkschule zugrunde, die so simpel wie verwegen ist. Warum es sinnvoll ist, Projekte und Ziele zehnmal größer zu denken, und warum ein Team von nur zwei Pizzen satt werden sollte.

Wer zum Mond will, sollte besser direkt nach den Sternen greifen. Denn wer die Sterne erreichen kann, für den ist es zum Mond nur ein Katzensprung. Moonshot Thinking heißt dieses Denkprinzip in Anlehnung an das Apollo-Programm von John F. Kennedy. Der damalige US-Präsident brachte mit seinem ambitionierten Fahrplan und gigantischen Finanzmitteln die ersten Menschen der Welt sicher zum Mond und wieder zurück. Nun musste sich die Mondlandung nicht refinanzieren, insofern taugt das Apollo-Programm nur bedingt als Blaupause für die Privatwirtschaft. Das Denken in großen Dimensionen und viel Geld in der Hinterhand helfen aber hier wie dort.

10 x größer denken.

Bei Google heißen die bahnbrechenden Themen immer noch Moonshot-Projekte. Verantwortlich für sie ist der gebürtige Brite Eric „Astro“ Teller. Den Beinamen hat der 51-Jährige übrigens nicht für seine hochfliegenden Google-X-Pläne verliehen bekommen, sondern für seinen Bürstenschnitt zu Highschool-Zeiten, der an Kunstrasen der Marke AstroTurf erinnert haben soll. Das Denken ist bei den Tellers eine ernstzunehmende Sache. Sein Vater Paul war ein Wissenschaftsphilosoph, dessen Vater Ede wiederum gilt als Vater der Wasserstoffbombe. Als Großvater mütterlicherseits bereicherte Wirtschaftsnobelpreisträger Gérard Debreu seinerzeit die Familientreffen. Wenn Eric Teller – heute mit etwas längeren, graumelierten Haaren – erklärt, worin die enorme Innovationskraft des zehnfach größeren Denkens liegt, nimmt er gerne das Beispiel des Verbrennungsmotors zu Hilfe: „Wenn du versuchst, aus einem Auto zehn Prozent mehr Reichweite herauszukitzeln, dann kannst du einfach die vorhandene Technik optimieren. Setzt du dir aber zum Ziel, auf 250 Kilometer nur einen Liter Sprit zu verbrauchen, dann musst du am Reißbrett anfangen.“ Neuartige Ideen entstünden dann häufig ganz von selbst.

Wenn die Kosten egal sind.

Die irrwitzig hohen Entwicklungskosten dieses Ansatzes sind vernachlässigbar, findet der frühere Vizechef von Google, Robotik-Professor Sebastian Thrun: „Der Preis, hinter dem wir her sind, ist so groß, dass Geld auf dem Weg dorthin keine Rolle spielt.“ Nicht 100 Millionen Menschen müsse man mit seinen Produkten erreichen, sondern eine Milliarde, lautet eine Prämisse der Google-Innovationsabteilung, die auch als Zahnbürstenregel bekannt ist: Schaffe ein Produkt, das eine Milliarde Menschen einmal am Tag benutzt! Das 10x-Thinking verteilt gerade viele seit Jahrzehnten gesetzte Rollen neu. Apple hat mit dem iPhone gezeigt, was möglich ist, wenn man das Telefon neu erfindet. PayPal hat die Art und Weise, wie wir Geld rund um den Globus transferieren, radikal verbilligt und vereinfacht. Und PayPal-Gründer Elon Musk lockt gerade mit seiner jungen Marke Tesla die behäbigen Platzhirsche der Autoindustrie aus ihrer Reserve. Zeitgleich wird er mit seiner Weltraumfirma SpaceX zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz für die amerikanische Raumfahrtbehörde NASA und hat eine völlig neue Alternative für die Versorgung der Welt mit besserem Internet aus dem Orbit entwickelt. Firmen, die in diesem globalisierten Innovationsstrudel nicht untergehen möchten, müssen zwangsläufig selbst wendig und innovativ werden. Ein Blick in den kalifornischen Werkzeugkasten für Disruption und Innovation lohnt sich. Denn neben dem 10x-Thinking enthält er noch zahlreiche weitere Werkzeuge für angehende Regelbrecher:innen.

Alles eine Frage der Daten.

Wie gerne Menschen Meinungen und Fakten miteinander vermischen, erleben wir seit knapp zwei Jahren in der Corona-Debatte. Doch während Menschen mit ihren Meinungen auch mal falschliegen können, lassen sich saubere Messungen höchstens falsch interpretieren. Sobald es also um ein strategisch solides Fortschrittsfundament geht, müssen Meinungen hintenanstehen. Oder, um es mit den Worten des ehemaligen Netscape-CEOs Jim Barksdale zu sagen: „Wenn wir Daten haben, lasst uns die Daten anschauen. Wenn wir bloß Meinungen haben, dann nehmen wir meine.“

Ein Team – zwei Pizzen. Basta!

Dass zu viele Köche den Brei verderben, ist keine ganz neue Erkenntnis. Amazon-Gründer Jeff Bezos münzte diese Weisheit auf die Start-up-Szene um. Ihm verdanken wir die Faustregel, dass ein erfolgreiches Team nur so viele Menschen umfassen darf, dass alle zusammen von zwei Pizzen satt werden können. In einem größeren Team, so die Annahme, würde die Kommunikation komplizierter werden und der interne Reibungsverlust die Innovationskraft schwächen. Eng mit dem Pizza-Lehrsatz sind grundsätzlichere Überlegungen darüber verknüpft, unter welchen Umständen welche Arten von Teams überhaupt Höchstleistungen erbringen können. Google hat diese Frage sehr genau erforscht und aus Feldversuchen in den eigenen Reihen ein Regelwerk abgeleitet.

– In einem Team müssen alle Mitarbeiter:innen gleichberechtigt sein.
– Alle Teammitglieder dürfen ihre Meinung frei und ohne Denkverbot ausdrücken.
– Jede:r Einzelne muss wissen, welche Bedeutung ihr oder sein Beitrag für die aktuelle Aufgabe und für das Unternehmen insgesamt hat.

Denn der Teufel steckt im Detail.

Amazon-Gründer Bezos hat neben dem Pizza-Limit noch einen weiteren Innovationstreiber für sich entwickelt: „In der alten Wirtschaftswelt hast du 30 Prozent deiner Zeit darauf verwendet, eine innovative Dienstleistung zu entwickeln, während du 70 Prozent darauf verwendet hast, darüber zu reden. In unserer heutigen Welt ist das Verhältnis genau umgekehrt.“ Bezos zielt damit auf die Preise für Information, Computerleistung und Vernetzung ab, die seit Jahren fallen. Dadurch sind sie allen Playern am Markt zugänglich. Die Frage ist also nicht mehr, ob eine Firma die Ressourcen hat, um etwa ein Auto zu bauen, sondern ob sie das in einer Qualität schafft, die am Markt bestehen kann. Eine exzellente Produktqualität ist also für den Firmenerfolg immer wichtiger. Viele erfolgreiche Digitalunternehmen haben daher ihre Führungspositionen durchgängig mit Leuten besetzt, die Erfahrung in der Produktentwicklung mitbringen. So steht mit Pichai Sundararajan kein Betriebswirt an der Spitze von Google, sondern ein Metallurgie- und Werkstoffwissenschaftler.

Wer reden kann, kann besser arbeiten.

Essentiell für eine erfolgreiche Innovationsarbeit sind nicht zuletzt Austausch und Transparenz. Das hat Alex Pentland, Leiter des Instituts für Human Dynamics am Massachusetts Institute of Technology, demonstriert. Eines seiner bekanntesten Experimente zeigte, dass Teams umso erfolgreicher sind, je besser sich die Mitglieder untereinander persönlich austauschen. 

Die Realität im deutschen Mittelstand trägt zu diesem wünschenswerten Miteinander allerdings nur wenig bei, wie Wohnpsychologe Daniel Rüttiger kürzlich im Gespräch mit faz.net bedauerte: „Früher hat sich niemand bemüht, einen Ort zu gestalten, an dem Menschen gerne zusammenkommen und sich Mitarbeiter:innen unterschiedlicher Abteilungen treffen.“ Dafür brauche es den geeigneten Raum, aber noch immer stehe die Kaffeemaschine in der dunkelsten Ecke. Und selbst in der Kaffeepause haben viele Mitarbeiter:innen in Deutschland noch immer ein schlechtes Gewissen, wenn sie mit Kolleg:innen beim Plausch gesehen werden. Hier glänzen die Silicon Valleys dieser Welt schon seit Jahrzehnten mit einer deutlich weniger misstrauischen Unternehmenskultur und viel offeneren und vielfältigeren Arbeitswelten, die einen positiven und fruchtbaren Flurfunk fördern.

Eine Frage der Kultur.

Einer, der beide Welten kennt, ist der Bonner Investor Frank Thelen. Er wurde einem breiten Publikum während seiner Zeit als TV-Juror bei der Sendung „Die Höhle der Löwen“ bekannt; seine 14 Beteiligungen aus dieser Zeit erwirtschaften inzwischen einen jährlichen Umsatz von mehr als 100 Millionen Euro. Zum 10x-Thinking hat er im vergangenen Jahr ein Buch veröffentlicht. Angesprochen auf die Macht des größeren Denkens sagte er jüngst gegenüber dem Portal „GmbH Chef“: „Die Mondlandung war das erste wirkliche 10xProjekt. Dieses Mindset findet man auch heute noch in den Köpfen der Silicon-Valley-Gründer:innen, sie denken Dinge neu. Diese Denke fehlt uns hier in Deutschland und Europa – noch.“ Made in Germany steht bislang wohl eher für solide Qualität. Nun scheint es an der Zeit, das mit einer großen Prise Innovation zu würzen und die Pizzen, Zahnbürsten und Co in unseren Arbeitsalltag zu integrieren.