Quelle: Dr. Jan Philipp Koch

Deaf Space Architektur. Ein Interview mit dem gehörlosen Architekten Dr. Jan Philipp Koch.

Dr. Jan Philipp Koch ist Architekt und hat sich selbst ein Haus entworfen, das speziell für gehörlose Menschen geeignet ist, ein sogenannter Deaf Space.

Koch hört nichts, er kann Lippenlesen und sprechen. Allerdings ist unsere Konversation per Video-Call für ihn schwieriger, als wenn wir uns live gegenüberstehen würden. Solange die Internetverbindung gut ist, das Bild also nicht ruckelt, und man selbst langsam und deutlich spricht, klappt die Kommunikation bei dem Interview sehr gut. Und wenn es doch einmal hakt, assistiert seine Frau und wiederholt die Frage für ihn.

Herr Dr. Koch, was ist Deaf Space Architektur?

J. P. K.: „Das ist kein feststehender Begriff, es ist einfach eine Bezeichnung für einen Raum, der für Gehörlose und Schwerhörige gut bewohnbar ist. Denn diese Bewohner haben andere Raumwahrnehmungen als Hörende und ein Deaf Space nimmt Rücksicht auf die besonderen Anforderungen von Hörbehinderten.“
 

Auf visuelle Signale setzen.

Was ist anders in so einem Raum?

J. P. K.: „Gehörlose und Schwerhörige nehmen den Raum primär mithilfe der Augen und je nach Schwere der Beeinträchtigung nicht mit den Ohren wahr. Das heißt, akustische Signale können wir nicht erfassen. Daher sollte der Raum so gestaltet sein, dass man keine Akustik zur Raumorientierung braucht, sondern visuelle Signale wahrnimmt. Ein einfaches Beispiel: Ich höre die Klingel nicht. Das kann man auf zwei Arten lösen, entweder über Lichtsignale oder über große Fensterfronten, damit man sieht, wer kommt. Außerdem brauchen Gehörlose Platz bei der Kommunikation, egal, ob sie sich durch Gebärden oder Lippenlesen verständigen. Und wichtig sind auch gute, blendfreie Lichtverhältnisse und Sichtbeziehungen.“

Durch die Wand kommunizieren.

Sie haben Ihr eigenes Haus als Deaf Space geplant?

J. P. K.: „Ja, zur Straße und zum Garten hin habe ich zum Beispiel große Fensterfronten geschaffen als halböffentlichen Bereich, der Innen und Außen verbindet. Das kann ich Ihnen mal zeigen."

Er dreht die Kamera des Laptops zu beiden Seiten des Raums. Auf der einen Seite blickt man durch eine große Fensterfront auf die Straße vor dem Haus, auf der anderen Seite besteht die ganze Wand zum Garten aus Glas.

J. P. K.: „Wenn ich etwas koche, sehe ich immer sofort, wenn jemand kommt oder ein Auto vorbeifährt. Wenn ich im Garten bin, kann ich durch das Haus hindurchschauen und sehe den Postboten. Für einen Deaf Space ist auch wichtig, dass man innerhalb des Raumes gut kommunizieren kann. Hörende können von Raum zu Raum rufen, auch wenn dazwischen eine Wand ist. Ein Gehörloser kann nicht durch Wände kommunizieren. Deswegen ist es wichtig für Gehörlose, dass man innerhalb des Raumes Sichtbeziehungen schafft, aber auch in andere Räume hinein. Das geht, indem man zum Beispiel Glas einsetzt. So bekomme ich das Geschehen beiläufig und umfassend mit.“

Erholung für die Augen.

Die Wand, vor der Sie sitzen, ist braun …

J. P. K.: „Deaf Space soll auch visuell entlasten. Es geht auch darum, dass meine Augen sich erholen. Dafür habe ich gedeckte, erdige Farbtöne eingesetzt, die die Augen beruhigen. Eine weiße Wand ist unnatürlich, irritierend und es ist anstrengend, darauf zu blicken.“

Wie haben Sie vorher gelebt?

J. P. K.: „In Mietwohnungen, dort bin ich auch irgendwie klargekommen, aber es gab zum Beispiel keine Verbindung nach draußen. Ich wusste nie, was dort passiert.“

Haben Sie noch mehr Häuser als Deaf Space gebaut?

J. P. K.: „Bisher habe ich nur eine weitere Deaf Space-Planung erstellt für ein gehörloses Ehepaar. Angesichts der Anzahl von hörbehinderten Menschen ist das wenig. Ich vermute, dass es allgemein zu wenig bekannt ist, dass man mit Deaf Space so viel bewirken kann und somit der Markt noch unerschlossen ist. Ich habe mehrere Anfragen zu Deaf Spaces gehabt, aber zu einem weiteren Auftrag ist es bisher noch nicht gekommen. Entweder bin ich noch nicht bekannt genug oder Gehörlose wissen oftmals gar nicht, dass es mit einfachen Mitteln besser geht. Ein Fenster mehr, eine Glastür mehr, eine Wand weniger, eine Sichtbeziehung in der richtigen Richtung mehr.“

Erlebbar. Begehbar. Erfassbar.

Schaffen räumliche Verbesserungen für Gehörlose auch angenehme Raumerfahrungen für Hörende?

J. P. K.: „Ja, absolut. Deaf Space ist nicht ein Haus nur für Gehörlose, sondern bedeutet, dass wir ein Haus wieder erlebbar, begehbar, erfassbar machen. Hörende Menschen merken auf einmal, wie viel sie außerhalb des Hörens wahrnehmen können. Wenn sie in mein Haus kommen, staunen sie, wie offen, wie anders alles ist. Sie merken, wie viel man sehen und wahrnehmen und erfühlen kann, weil ich das Drinnen mit dem Draußen verbunden habe.“

Große Glasfronten sind ja derzeit auch sonst in der Architektur sehr beliebt.

J. P. K.: „Normalerweise wird das aber nicht so umgesetzt, wie wir es als Gehörlose brauchen. Die Sichtbeziehungen sind nicht richtig, sie spielen aber die zentrale Rolle bei Deaf Space. Auch wird nicht auf das Blendungspotenzial von Fensterfronten geachtet.“

Platz richtig nutzen.

Setzt Deaf Space viel Platz voraus und lässt sich nur in großen Häusern umsetzen?

J. P. K.: „Nein, überhaupt nicht. Deaf Space heißt nicht, dass wir viel Platz brauchen, sondern dass man den Platz, den man hat, richtig nutzt. Ich kann jeden Raum als Deaf Space nutzen, dafür brauche ich kein großes Haus. Wenn man in einer Wohnung im vierten Stock wohnt, kann man zum Beispiel durch ein bodentiefes Fenster eine Verbindung nach draußen schaffen, um zu sehen, wer unten steht.“

Wird die Deaf Space Architektur auch in öffentlichen Gebäuden berücksichtigt?

J. P. K.: „Wenn ich beispielsweise zum Einwohnermeldeamt gehe, habe ich keine Ahnung, ob hinter der Tür jemand ist. Ich klopfe, mache notgedrungen die Tür auf und dann sitzen da fünf Leute und sind sauer und sagen: ‚Wir haben doch gesagt, jetzt nicht‘. Dann entschuldige ich mich und sage, dass ich nicht hören kann. Solche unangenehmen Situationen begleiteten mich schon immer und können verbessert werden.“

Keine Lobby für Gehörlose.

Aber das Bewusstsein für barrierefreies Bauen wächst doch.

J. P. K.: „Ja, nur Gehörlose kommen da nicht vor. Die sind komplett vergessen. In öffentlichen Gebäuden gibt es barrierefreie Zugänge für Rollstuhlfahrer:innen, die entsprechenden Normen sind aber auch sehr gut für Gehörlose geeignet, weil sie einen bestimmten Abstand vorgeben. Und Platz erleichtert die Kommunikation. Aber es gibt keine Vorgaben für Gehörlose, nur einige wenige Vorgaben für Schwerhörige, und die betreffen vor allem die Raumakustik. Aber es gibt keinen Hinweis zu Sichtbeziehungen oder zur Transparenz.

Das Problem ist wohl, dass die Gehörlosen keine Lobby haben. Gehörlose werden im Gegensatz zu Rollstuhlfahrern in der Umwelt viel weniger wahrgenommen, weil man deren Behinderung nicht unmittelbar sieht. Dabei könnte man ganz wenige Sachen mit in die Normen aufnehmen, um eine deutliche Verbesserung zu erreichen.“

Zum Beispiel?

J. P. K.: „Ein Lichtsignal über der Tür, das rot leuchtet, wenn man nicht eintreten soll. Glastüren und auch Fenster zwischen den Räumen. Das macht man in amerikanischen Gebäuden oft. Das ist sehr gut für Gehörlose. Wir brauchen Räume, die offener und durchlässiger sind und Sichtbeziehungen ermöglichen.“

Warum werden Gehörlose in öffentlichen Gebäuden nicht oder kaum berücksichtigt?

J. P. K.: „Man hat im Normenausschuss zum ‚Barrierefreien Bauen‘ vermutlich entschieden, Gehörlose bräuchten in der baulichen Umwelt nicht so eine starke Unterstützung wie zum Beispiel Rollstuhlfahrer:innen und ich glaube, das liegt daran, dass man es ihnen nicht unmittelbar ansieht: Gehörlose stehen vor einer verschlossenen Tür und man sieht ihr Problem nicht. Man sieht nicht, dass sie innerlich damit kämpfen, was sie machen sollen und hier vollkommen hilflos sind. Wenn ich durch die Stadt laufe, weiß ja kein Mensch, dass ich nicht hören kann und welche Probleme ich dadurch ständig lösen muss.“

Quelle: Dr. Jan Philipp Koch

Zur Person

Über Dr. Jan Philipp Koch.

Jan Philipp Koch, 1974 geboren, hat an der Fachhochschule Heidelberg und der Universität Wuppertal Architektur studiert und an der Technischen Universität Darmstadt promoviert. Als Kleinkind hat er als Folge einer Krankheit sein Gehör völlig verloren, seine Eltern bestanden darauf, dass er das Lippenlesen und Sprechen lernt und auf normale Regelschulen geht. Als Architekt und Betroffener beschäftigte er sich früh in seiner beruflichen Laufbahn mit der Frage, wie die gebaute Umwelt das Leben gehörloser und schwerhöriger Menschen erleichtern kann. Er betreibt ein Architekturbüro in Köln: www.kocharch.de