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Teil 2: Stadt der Zukunft – was sagt die Wissenschaft?

Wissenschaftlerin Prof. Dr.-Ing. Sabine Baumgart, Präsidentin der ARL – Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft, Architektin, Stadtplanerin und assoziiertes Mitglied am Institut für Public Health (IPP) der Universität Bremen, im Interview über die Transformation der Städte, Probleme und Lösungen.

Frau Prof. Baumgart, was sind die zentralen Herausforderungen für die Städte der Zukunft? 

Prof. Sabine Baumgart: „Wir brauchen nicht nur eine Verkehrswende und eine Energiewende in den Städten, sondern auch eine bodenpolitische Wende. Die öffentliche Hand muss stärker Zugriff auf Boden und Grundstücke bekommen. Damit Bodeneigentum nicht mehr so stark in den Händen international agierender Finanzinvestoren liegt, bei denen man nicht weiß, welcher Fonds dahintersteckt, wo und wie der agiert. Die haben meist kein Interesse an der lokalen Entwicklung. Stattdessen sollte man stärker auf lokale und regionale Investoren setzen, die auch ein Interesse daran haben, den lokalen Standort zu entwickeln. Auch für bezahlbaren Wohnraum braucht die öffentliche Hand Zugriff auf Grund und Boden. Wir von der Akademie für Raumentwicklung sind auch Kooperationspartner in dem ‚Bündnis Bodenwende‘, das vor einigen Wochen gegründet wurde und das wirksamere boden- und planungsrechtliche Instrumente und deren Einsatz fordert, damit eine nachhaltige Transformation von Zentren und Stadtquartieren gelingen kann.“

„Viele Städte, in denen Kaufhäuser leer stehen, entwickeln zudem kreative Konzepte, wie die Gebäude neu genutzt werden können.“

Aber wie können Innenstädte lebendig bleiben oder werden, wenn Kaufhäuser schließen, der Online-Handel boomt und Corona die Situation für den Einzelhandel noch verschärft hat?

S. B.: „Es gibt viele Möglichkeiten, wie wir das Leben in die Städte zurückbringen können. Dazu zählt auch, wieder in den Innenstädten Wohnen zu ermöglichen. Viele Städte, in denen Kaufhäuser leer stehen, entwickeln zudem kreative Konzepte, wie die Gebäude neu genutzt werden können. Mit Einzelhandel, aber auch Dienstleistungen, Pop-up-Stores, Museen, Sport-, Kultur- und Freizeitangeboten. Was ich auch sehr interessant finde, sind Co-Working-Spaces. Das kann eine kleinteilige Produktion sein bis hin zu vertikalem Farming. In Singapur gibt es solche Formen der Landwirtschaft in Innenräumenkünstlicher Beleuchtung. Dafür braucht es natürlich auch Leute, die den Mut oder das Geld haben, das auszuprobieren.“ 

In einigen Städten wie beispielsweise in Siegen werden auch Universitäten wieder in die Innenstadt verlegt.

S. B.: „In Siegen haben sie auch den Fluss wieder im Stadtbild reaktiviert mit breiten Treppen, damit man Zugang zum Wasser hat. Auch in Bremen gibt es eine zentrale Fläche in der Innenstadt, auf die ein Teil der Universität verlegt werden soll. Damit kommen junge Leute in die Stadt und die bringen Kreativität und Ideen mit, um die Stadt lebendig zu gestalten. Der andere zentrale Punkt, um etwas zu verändern, ist der öffentliche Raum. Wir müssen die öffentlichen Räume aufwerten, von Trinkwasserbrunnen über Bänke bis hin zu Spielplätzen.“

War der Fokus in den vergangenen Jahrzehnten zu sehr auf den Einzelhandel gerichtet und der öffentliche Raum wurde dabei vernachlässigt? 

S. B.: „Die Innenstädte waren sehr stark auf den Einzelhandel fokussiert und, was ja auch nicht verkehrt ist, wurden zunehmend als touristische Destinationen hergerichtet. Natürlich ist es schön, wenn historische Bauten in Stand gesetzt werden, aber ich finde, die Innenstadt muss auch für alle Teile der Stadtbevölkerung nutzbar sein. Man braucht großflächige Angebote wie Universitäten, aber auch kleinteilige. Entscheidend sind dabei wieder die öffentlichen Freiräume, denen wir mehr Aufmerksamkeit widmen müssen. Sie müssen ästhetisch gut gestaltet sein, aber auch einen hohen Gebrauchswert haben. Und es muss für alle Verkehrsteilnehmer und Verkehrsteilnehmerinnen angenehm sein, sich dort zu bewegen.“

„Wir brauchen schlaue Konzepte, die nicht nur einzelne Teilräume betrachten"

Also den Individualverkehr nicht aus den Zentren verbannen?

S. B.: „Ich würde immer versuchen, den Autoverkehr zu reduzieren. Und zwar so, dass es nicht zu Lasten von anderen Stadträumen geht. Denn das ist oft der Fall. Wird in der Innenstadt ein Bereich für Autos gesperrt, erhöht sich dafür oft der Verkehr in den sowieso schon stark belasteten Randbezirken. Wir brauchen schlaue Konzepte, die nicht nur einzelne Teilräume betrachten. Dafür muss man auch Anreize schaffen, damit Angebote des öffentlichen Personennahverkehrs stärker genutzt werden. Insgesamt plädiere ich für mehr Gleichrangigkeit aller Verkehrsteilnehmer und Verkehrsteilnehmerinnen. Fußgänger:innen und Radfahrer:innen sind in den letzten Jahrzehnten zu kurz gekommen im Vergleich zum Auto. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind Städte autogerecht aufgebaut worden. Das muss sich wieder ändern. Wir räumen den Autos viel zu viel Platz ein, stellen sie im öffentlichen Raum ab, größtenteils sogar kostenlos, aber würde jemand seine private Hängematte in den öffentlichen Raum hängen und nutzen, gäbe es sofort Ärger.“ 

Welche Rolle spielt der Klimawandel für die Stadt der Zukunft?

S. B.: „Klimaschutz und Klimaanpassung sind die zentralen Herausforderungen für die Städte.  Klimaschutz hat natürlich  Auswirkungen auf alle anderen Bereiche, und er ist nicht kostenlos zu haben. Wir müssen viel mehr Aufmerksamkeit auf Grünflächen und Wasserflächen richten, dabei können Grünflächen ebenso vertikal angelegt sein. Grüne und blaue Flächen spielen eine ganz zentrale Rolle für das Mikroklima und tragen zur Abkühlung in den Städten bei. Und sie haben die Aufgabe, als Retentionsfläche das Wasser zurückzuhalten, das Stichwort ist hier die Schwammstadt.“ 

In vielen Kommunen werden am Stadtrand immer neue Baugebiete ausgewiesen, während in der Innenstadt Leerstand herrscht.

S. B.: „Es gibt kreative Ansätze von kleineren Städten, die sehr erfolgreich damit sind, dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Wer in der Innenstadt ein altes Haus renoviert, bekommt dort zum Beispiel finanzielle Unterstützung von der Gemeinde. Das Zentrum zu stärken, hat ja auch den Vorteil, dass die vorhandene Infrastruktur genutzt wird. Wenn ich am Stadtrand neu baue, muss ich neue Straßen, neue Kanalleitungen bauen. Und wenn die Menschen verstärkt in der Innenstadt wohnen, kaufen sie auch dort eher ein oder gehen dort ins Café. Wir brauchen wieder unterschiedliche Funktionen in der Innenstadt.“

Den Bestand im Zentrum stärken, statt neu zu bauen?

S. B.: „Der städtebauliche Bestand ist das, was wir in den Mittelpunkt stellen müssen. 90 bis 95 Prozent der Städte sind ja gebaut, wir können nicht bei null anfangen, sondern müssen uns Gedanken machen, wie wir den städtebaulichen Bestand so umrüsten können, dass er mehr auf Klimaschutz und Klimaanpassung ausgerichtet ist. Dabei müssen wir auch schauen, welche Instrumente wir dafür haben. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind immer noch stärker am Neubau orientiert als am Bestand. Und wir müssen die Kreislaufwirtschaft etablieren. Das kennen wir von Dosenpfand bis Glas, aber noch nicht so sehr von Baumaterialien. Forschung und Praxis, darunter ‚Architects for Future‘, beschäftigen sich beispielsweise mit der Frage: Wie gehe ich mit Recyclingmaterialien der Gebäude um?“

Und wie kann eine gute Transformation der Städte gelingen?

S. B.: „Wir brauchen insgesamt mehr Akteure am Tisch, wenn wir planen. Zum Beispiel müssen auch der Katastrophenschutz und der öffentliche Gesundheitsdienst in die Verfahren verstärkt einbezogen werden. Wir brauchen mehr Flexibilität. Wir müssen nicht nur rechtssicher planen, sondern auch Optionen offenhalten. Planen unter Unsicherheits-
bedingungen, wie wir es jetzt in der Pandemie erlebt haben, werden wir in der Klimakrise noch stärker erleben. Wir brauchen mehr Resilienz in den Städten, Resilienz als Anpassungsfähigkeit an sich ändernde Rahmenbedingungen.“