Jürgen Utz, Leiter Nachhaltigkeitsentwicklung bei der LIST AG
Quelle: LIST Gruppe

"Wir müssen Kapital für Biodiversität bereitstellen!" Jürgen Utz im Interview

„Nur wenn die Vielfalt an Genen, Arten und Ökosystemen in gutem Zustand ist, ist Biodiversität stabil – sie ist von entscheidender Bedeutung für unsere Umwelt“, erklärt Jürgen Utz, Leiter Nachhaltigkeitsentwicklung bei der LIST Gruppe. Wir haben bei ihm genauer nachgefragt, welche besorgniserregenden Entwicklungen sich derzeit in unserer Umwelt abzeichnen, ob die gesteckten Ziele zum Schutz dieser überhaupt erreichbar sind und vor welchen Herausforderungen die Akteure bei den regulatorischen Anforderungen stehen.

Warum ist der Erhalt der Biodiversität so essenziell?
J.U.: Die Biodiversität hat aufgrund der darauf basierenden Ökosystemleistungen, also z.B. die Filterung von Wasser und Luft, die Kühlung durch Vegetation oder die Bereitstellung von nachwachsenden Rohstoffen, einen unmittelbaren Einfluss auf unser aller Wohlergehen. Doch die aktuellen Entwicklungen sind alarmierend: So zeigt der Living Planet Report des WWF aus dem Jahr 2020, dass wir zum Beispiel schon etwa 70 Prozent aller wildlebenden Wirbeltiere verloren haben. Aktuell ist in Europa jede fünfte Art vom Aussterben bedroht – und das nur von denen, die wir kennen, was der kleinste Teil ist. Dieser dramatische Verlust an Biodiversität hat schwerwiegende ökologische und resultierende ökonomische Konsequenzen. Denn mehr als 50% des globalen gross domestic product (GDP) hängen von Biodiversität ab, so eine konservative Schätzung. Und diese Leistungen der Natur sind oft nicht ersetzbar.

In den vergangenen Monaten und Jahren sind einige neue Regulatoriken eingeführt worden – welche Aspekte dieser neuen Verordnungen werden für den Wandel am wichtigsten sein?
J. U.: Mit dem Kunming-Montreal-Abkommen gibt es ein übergeordnetes Regelwerk für Biodiversität, welches in seiner Form vergleichbar zum Pariser Abkommen ist. Biodiversität ist zudem in der EU-Taxonomie als eines von sechs Schutzzielen – leider für die Immobilienwirtschaft nicht verpflichtend, aber als DNSH-Kriterium – verankert, ebenso ist es ein eigenes Themenfeld in der CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive). Darüber hinaus gibt es die EU-Biodiversitätsstrategie und die Fortschreibung auf nationaler Ebene. Ganz aktuell wurde zudem von der EU noch das Nature Restoration Law verabschiedet – und es existieren bereits EU-Regeln für Schutz von Flora und Fauna (z.B. Natura2000-Gebiete) in unterschiedlicher Weise.
Die CSRD sticht hier heraus, da hier nicht nur die Standorte von Gebäuden betrachtet werden, sondern auch die Materialien und deren Herkunft. Es geht nun also auch um die Lieferketten, da die vor- und nachgelagerte Wertschöpfungskette von entscheidender Bedeutung ist. Damit müssen sich nahezu alle Akteure mit diesem Thema beschäftigen – von der Bank bis hin zum Bestandhalter. Auch wenn wohl nicht bei allen das Thema vom Start weg als „wesentlich“ identifiziert wird, weil Wissen und/oder Informationen fehlen, dürfte sich dies schnell ändern. „Wesentlich“ heißt in diesem Fall, dass nach CSRD darüber zu reporten ist und ein Transitionsplan benötigt wird. So müssen mittelfristig alle mit Strategien aufwarten, wie sie die Biodiversität gemäß den Zielen von Kunming-Montreal einhalten wollen. Denn über die Wertschöpfungsketten sind die Akteure verbunden, also z.B. Hersteller und Planer.

Sind die festgelegten Ziele überhaupt realistisch?
J. U.: Realistisch ist hier eigentlich die falsche Frage. Die Einhaltung der Ziele ist schlicht eine Notwendigkeit und Gebot der Logik und Vernunft – sowohl aus ökonomischer als auch aus ökologischer Sicht. Es geht um unsere Existenz, denn wir reden hier über nichts Geringeres als unsere Lebensgrundlagen. Denn das ist die Natur: unser Lebensnetz, in das wir eingebettet sind. Dafür braucht Natur einen Preis, aber auch einen Eigenwert, der unantastbar und nicht in Geld messbar ist. Denn die vielfältigen Leistungen können und sollten wir nicht einfach monetarisieren, weil sie sonst handelbar und vergleichbar würden. Denn das birgt das Risiko, dass man das Recht auf Umweltzerstörung kaufen wird, wenn der Business Case sich in Summe damit rechnet.

Deshalb gilt hier: Kapital muss in den Schutz und die Wiederherstellung von Natur fließen. Der Umbau der Wirtschaft in Richtung mindestens „biodiversitätsneutral” ist unausweichlich. Und die Politik muss via Vorgaben und Ordnungspolitik überall dort die Natur schützen, wo sie als Allgemeingut den Menschen ihren Wohlstand, Gesundheit und Wohlbefinden sichert. Hier gilt es also das Prinzip der Allmende und den Schutz der Gemeingüter wieder in den Vordergrund zu stellen.

Werden sich die verschiedenen Länder unterschiedlich schnell entwickeln?
J. U.: Ja, davon ist auszugehen. Zum einen haben die Länder unterschiedliche Voraussetzungen und Erfahrungen mit dem Schutz der Biodiversität. So ist das Thema z.B. in Frankreich schon länger präsent als in Deutschland. Gleichzeitig sind die Industrien und ihre Wertschöpfungsketten in den Ländern unterschiedlich stark von Biodiversität abhängig, sowohl lokal als auch global. Die Bereitschaft, hier zu investieren und aktiv zu werden, hängt somit auch an den Risiken, welche man durch den Verlust an Biodiversität auf sich zukommen sieht. Darüber hinaus sind Faktoren wie die Geschwindigkeit und Struktur politischer Systeme und Verfahren, der Einfluss von NGOs und Lobbygruppen sowie die Erwartungshaltung der Bevölkerung an Politik und Entscheidungsträger in der Wirtschaft, das Thema aufzugreifen, entscheidend. Und hier braucht es positive Vorbilder, die zeigen, dass es geht und gut tut.

Welche Herausforderungen kommen dabei auf die Akteure zu?
J. U.: Um Biodiversität effektiv zu schützen, müssen Unternehmen und die Immobilienbranche von Anfang an Biodiversitätskonzepte in ihre Projekte integrieren und über die Wertschöpfungskette mitdenken. Diese Konzepte bringen unterschiedliche Aspekte zusammen und in Einklang: von der Einbindung in übergeordnete Strukturen und die Vermeidung von Flächenversiegelung über die Artenwahl bis hin zum Pflegekonzept. Ebenso spielen der Entwurf (Licht, Vogelschlag, Nistoptionen, Grünelemente), die Materialwahl (Lieferkette, Biozide) und die Konstruktion (Zirkularität, Klimaschutz) eine wichtige Rolle. So können z.B. gezielt ein besseres Mikroklima, eine höhere Aufenthaltsqualität, natürliche System für Klimaresilienz und die Erfüllung von regulatorischen Anforderungen erreicht werden. Die größte Herausforderung ist eine belastbare und nachvollziehbare Erfassung der Erfolge von Maßnahmen von Jahr zu Jahr. Hier gilt es, basierend auf existierenden Standards und der Entwicklung neuer, wissenschaftlich basierter Methoden, für die Branche klare KPIs zu entwickeln. Schon heute enthält eine Immobilienfinanzierung deutlich bessere Konditionen, wenn eine nachweislich nachhaltige Immobilie realisiert wird. Dieser Trend wird sich fortsetzen, über Energieverbräuche und Zertifikate hinaus auch auf ganzheitliche Biodiversität schauen und so letztlich die gesamte Wertschöpfungskette durchdringen. Alle Akteure tun gut daran, sich schon heute darauf einzustellen.

Und zum Abschluss: Wie wird sich das Thema rund um die Biodiversität in der kommenden Zeit entwickeln?
J. U.: Das Thema gewinnt weiter an Fahrt – nicht zuletzt, weil der Kapitalmarkt die darin verborgenen Risiken erkennt. Und natürlich, weil der CSRD-Rollout, das neue Naturschutzgesetz und absehbar die nationale Biodiversitätsstrategie hier Druck durch Transparenzanforderungen aufbauen. Die EZB, ESMA und BaFin beobachten auf verschiedenen Ebenen über Kennzahlen zur Nachhaltigkeit und die Jahresabschlüsse der Unternehmen genau, ob die Marktteilnehmer das Thema ernsthaft bearbeiten.. So wie es Klimastresstests für Banken gibt, wird es ähnliche Verfahren auch für Biodiversität geben. Der Kapitalmarkt wird darauf unmittelbar reagieren. Die Biodiversitäts-Due Diligence wird absehbar kommen und den Wert einer Immobilie mit bestimmen.
Zum anderen, weil Natur als Anlageklasse attraktiv wird und es diverse Aktivitäten zu Biodiversity Credits gibt, die man aber sehr kritisch betrachten sollte aus Gründen, deren Erläuterung hier zu weit führen würde.
Fest steht: Es muss definitiv massiv in die Wiederherstellung und den Erhalt von Ökosystemen investiert werden. Diese Gelder dürfen aber nicht mit wirtschaftlichen Aktivitäten verdient werden, die gleichzeitig der Biodiversität schaden. Sonst ist am Ende nichts gewonnen.